Gil Ron Shama im Gespräch über das Sacred Music Festival

»Wir können hier nicht einfach wie die Hippies in Kalifornien Frieden predigen«

Zum Abschluss des Sommerkulturprogramms in Jerusalem fand Ende August das Sacred Music Festival statt. Ein Gespräch mit dem Kurator Gil Ron Shama über den Soundtrack der Heiligen Stadt, das Gemeinschaftsgefühl der Musiker beim Stimmen der Instrumente und die Morddrohungen gegen Künstler, die in Israel auftreten.

Jerusalem ist geprägt von Religion und religiösen Konflikten. Ausgerechnet hier ver­anstalten Sie ein Festival für heilige Musik. Warum?
Wir befinden uns hier inmitten eines politischen Chaos, das vor allem ein Resultat der verschiedenen Religionen ist. Uns geht es aber darum, mit Hilfe von Musik die Gemeinsam­keiten der unterschiedlichen Kulturen zu zeigen. Das mag für Menschen aus dem Westen banal klingen, aber vor der Ära von Internet und ­E-Mail war es beispielsweise für mich ­sehr schwierig, mit Leuten wie Basel Khoury, meinem Mitmusiker aus Jordanien, überhaupt ­zu kommunizieren.
Es geht uns also um den Austausch zwischen Musiken aus verschiedenen Kulturen und um Gemeinsamkeiten. Der Begriff »sacred« wird sowohl im heidnischen, christlichen, muslimischen, jüdischen wie im hinduistischen Kontext verwendet. Er bezieht sich auch nicht nur auf das Heilige, sondern auch auf die mystischen Elemente von Musik. Wenn wir Musik als heilig bezeichnen, meinen wir oft die Musik der Vergangenheit, etwa des biblischen Zeitalters. Wir möchten zeigen, was heute »sacred music« sein kann. Ich denke, dass sie Räume schafft, in denen die unterschiedlichsten Menschen friedlich zusammenkommen können. Die Musik des Festivals stammt aus Indien, Westafrika, Per­sien, Afghanistan, Iran, Pakistan und anderen Ländern des Mittleren Osten und hat dabei sehr viel gemeinsam, wie zum Beispiel bestimmte Tonleitern.
Wie sind Sie zur Musik gekommen und welche musikalischen Einflüsse sind für Ihre ­Arbeit wichtig?
Ich stamme aus einer Künstlerfamilie und hatte also keine Wahl! Mein Vater ist Gründer der Batsheva Dance Company und glaubte daran, dass sich die Welt mit Hilfe der Kunst verändern lässt. 1996 habe ich Sheva gegründet, die erste Band Israels, die aus Palästinensern ­­und Israelis bestand. Wir sahen uns als Teil einer neuen musikalischen Bewegung, die in den Neunzigern erstmals politische Themen mit Musik und ­der Kabbala, also der mystischen Seite des Judentums, verband. In Israel war es eine Art ­Revolution, vergleichbar mit den Achtundsechzigern in Europa. Danach konnte sich Kunst viel stärker im alltäglichen Leben entfalten. Vormals herrschten Religion und Politik weitgehend über die öffentliche Meinung. Die heutige Jugend ist da schon viel ­gebildeter ist und geht viel reflektierter mit der eigenen Geschichte um.
Wie äußert sich das?
Die heutige Generation stellt vieles in Frage, was ihnen erzählt wird. Viele junge Künstler wissen, dass Geschichte immer auch Storytelling ist. Sie haben deshalb auch keine Angst mehr davor, geistliche Autoritäten zu hinterfragen. Dieses neue Bewusstsein wird vor allem in der Gesellschaft sichtbar, die hier viel komplexer ist als anderswo. In Europa und den USA existiert ein großer Sicherheitsabstand zwischen Religion und Kultur, aber in Israel ist beides immer noch sehr eng miteinander verbunden. So ist es ­zum Beispiel ein Tabu, in Aramäisch zu singen, da es die heilige Sprache von Jesus ist.
Das Musikprojekt, an dem Sie gegenwärtig mitarbeiten, heißt Ras Sinai. Was hat Sie an dem multinationalen Bandprojekt gereizt?
Ras, ein kleiner Ort mitten in der Wüste auf der Sinai-Halbinsel, ist vielleicht der einzige Platz im Nahen Osten, an dem sich Syrier, Jordanier, Israelis, Ägypter, Libanesen und Sudanesen, also jene Nationalitäten, die an dem Projekt beteiligt sind, treffen können, um gemeinsam Musik zu machen. Unser Motto ist »We are one«. Aber die Realität ist, dass es dieses »one« nicht gibt. Ägypten ist dabei, unterzugehen, die Lage in Jordanien ist angespannt, und in ­Syrien herrscht ein blutiger Bürgerkrieg. Aus diesem Chaos heraus fand eine Gruppe von Menschen zusammen, die naiv genug sind, um mittels Musik zu kommunizieren.
Was bedeutet es, dass das Festival gerade in Jerusalem stattfindet?
Jerusalem ist in positiver und negativer Hinsicht das Zentrum der Welt. Der Palästina-Konflikt, der oft sehr verkürzt dargestellt wird, prägt das Bild der Stadt immer noch sehr stark. Nur wenige Medien brechen aus dem Mainstream aus und überwinden das Stereotyp »des Palästinensers« oder »des Juden«, denn die Wurzeln sind meist sehr vielfältig. Israel ist zwar ein modernes Land, aber es ist auch wie das Auge des Sturms. Alle kennen Jerusalem, Millionen von Menschen beten täglich für die Stadt, aber wer kennt sie wirklich? Musik spielt hier meist nur im religiösen Kontext eine Rolle, weshalb sie nur die wenigsten zu hören bekommen. Niemand kennt zum Beispiel den täglichen Gottesdienst in armenischen Kirchen, bei dem tradi­tionelle Maqam-Musik aus Persien gespielt wird. Maqam ist ein bestimmtes System aus Tönen, deren Beziehungen zueinander mit bestimmten Emotionen verbunden sind.
Viele internationale Künstler erhalten Drohungen von radikalen Organisationen, wenn sie in Israel auftreten wollen. Der malische Popstar Salif Keita etwa wurde vom Palestinian BDS National Committee, einer Organisation, die zum Boykott Israels aufruft, ­bedroht. Keita sagt seinen Auftritt auf dem Festival daraufhin ab.
Es ist ein großes Problem für uns. Diese Organisationen bedrohen uns aus zwei Gründen, wegen des Palästina-Konflikts und wegen des Vorwurfs, Israel sei ein rassistisches Apartheids­regime. Es ist natürlich ein zweischneidiges Schwert, aber das, was wir hier machen, ist eine der wenigen positiven Initiativen.
Vor dem Interviewtermin mit den Weltmusikstars Amadou & Mariam bekamen wir Journalisten die Anweisung, die beiden Künstler nicht zum Palästina-Konflikt zu befragen. Sind die beiden Musiker vorher bedroht worden?
Ja, und ich habe großen Respekt davor, dass sie aufgetreten sind, obwohl sie Morddrohungen erhielten. Ich weiß nicht, ob ich mein Leben für einen Gig riskieren würde. Auf der anderen ­Seite ist es natürlich eine Grenze, die man überschreiten muss, um seine Freiheit nicht zu ­verlieren. Dies kann leicht passieren. Heute ist es in Jerusalem nicht mehr wirklich sichtbar, aber vor ein paar Jahren musste man hier auf der Straße noch um sein Leben fürchten. Es herrschte regelrecht Krieg.
Sie haben selbst die Erfahrung von Krieg und Gewalt gemacht?
Ich habe bereits vier Kriege hinter mir. Vor 20 Jahren war ich Soldat, hielt eine Waffe in der Hand und kämpfte im Libanon an der Front und in den besetzten Gebieten Israels. Ein Grund, warum ich das hier mache, liegt auch darin, dass ich andere vor diesen Kriegser­lebnissen, mit denen ich aufgewachsen bin, bewahren möchte.
Gibt es da Ähnlichkeiten zum musikalischen Pazifismus der Hippie-Bewegung der sech­ziger Jahre?
Nein, es besteht ein großer Unterschied zwischen den kiffenden Hippies aus Kalifornien und den Friedensaktivisten hier. Wir können hier nicht einfach Freiheit predigen. Um die Ängste zu überwinden, benötigt es großen Mut. Ignoranz und Zynismus sind hier wie eine schlimme Krankheit. Viele begegnen unserer Botschaft noch immer mit Skepsis.
Wie lautet die Botschaft?
Für mich ist das gemeinsame Musikhören von Menschen, die aus unterschiedlichen Nationen stammen, ein starkes Symbol. Es mag naiv klingen, aber man sollte das gemeinsame Stimmen von Instrumenten und das damit ver­bundene einander Zuhören auf politische Debatten übertragen. Musik sollte als zentraler gemeinsamer Nenner der Menschheit wieder mehr Bedeutung gewinnen.