Literatur als strategische Waffe für die »Befriedung« brasilianischer Favelas

Gedichte und Granaten

Zum neuen Sicherheitskonzept Brasiliens in den Favelas gehört der Einsatz der sogenannten Befriedungspolizei. Literatur gilt den Einheiten als strategische Waffe.

Bevor die Massenproteste im Juni in mehreren hundert Städten stattfanden, wurde Brasilien von der internationalen Presse als leuchtendes Beispiel für ein aufstrebendes, wirtschaftlich und sozialpo­litisch erfolgreiches Land gefeiert. Ausdrücklich wurde dabei die neue Sicherheitspolitik in Rio de Janeiro gelobt. Der Einsatz der sogenannten Befriedungspolizei in den Favelas wurde als Erfolgsmodell für die urbane Modernisierung gepriesen. Euphorisch verwies man auf Statistiken, die angeblich einen deutlichen Rückgang der Kriminalität belegten. Erste Zweifel an der Erfolgsgeschichte kamen auf, als Übergriffe der Militärpolizei auf Bewohner der Favelas bekannt wurden und Befürchtungen aufkamen, dass die »Befriedung« der Favelas lediglich Inszenierungen im Hinblick auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Sommerspiele 2016 in Bra­silien seien und die Kriminalität lediglich ins angrenzende Umland verschoben werde.
Nicht zuletzt waren es zwei Vorfälle, die Schlagzeilen machten. Zum einen war da Erschießung von mehreren friedlichen Demon­stranten durch eine Spezialeinheit der Militärpolizei in einer Favela im Norden von Rio. Zum anderen der Fall des Maurers Amarildo de Souza, der vermutlich zu Tode gefoltert wurde. Sein Verschwinden nach einem Verhör durch die »Befriedungspolizei« in einer Favela im Süden Rios löste eine öffentliche Debatte aus, in der Menschenrechtsorganisationen, Politiker und bekannte Persönlichkeiten Aufklärung fordern. Die Unidade de Polícia Pacificadora (Einheit der Befriedungspolizei) oder kurz UPP ist eine Einheit der Militärpolizei. In zahlreichen Favelas wurden Einheiten der UPP dauerhaft stationiert (siehe Jungle World 51/11). Ihnen angegliedert ist die UPP Social, die für die Kommunikation mit den Bewohnern, die Genehmigung von Veranstaltungen und die Organisation von Projekten zuständig ist.

Seit den ersten Erwähnungen der Favelas Anfang des 20. Jahrhunderts polarisieren die Armenviertel die Öffentlichkeit. Einerseits wurden sie wegen der illegalen und zumeist planlosen Bebauung verachtet; andererseits als Wiege des Samba und Ort der Lebensfreude mythisiert. Das große Interesse der Öffentlichkeit an Favelas setzte in den späten fünfziger und sechziger Jahren ein. Zahlreiche Filme und Texte beschäftigten sich mit den Armenvierteln. In den achtziger Jahren wurden sie immer mehr als Bedrohung wahrgenommen, insbesondere wegen des in den Favelas organisierten transna­tionalen Drogenhandels und der hohen Zahl von Todesopfern durch Bandenkriege oder Polizeieinsätze. Die Favela wurde zum »Ort des Leidens«, wie die brasilianische Soziologin Licia Valladares diagnostizierte, die Bewohner wurden häufig als Verbrecher und Drogenhändler stigmatisiert.
Im Zuge der »Befriedung« der Favelas vor allem im Umkreis der Austragungsorte der Fußballweltmeisterschaft und der Olympischen Spiele blickt die Gesellschaft wieder wohlwollender auf die Siedlungen. Viele in- und auslän­dische Touristen machen sie zum Ausflugsziel, manche blieben, eröffneten dort Hostels, Restaurants und Bars. Favelas wurden schick, es gibt einen regelrechten Hype. Die als Kriminelle gescholtenen Bewohner werden plötzlich respektvoll »bedürftige Gemeinschaften« genannt. Die Aufwertung der Viertel und die damit einhergehende Immobilienspekulation führen jedoch dazu, dass nicht wenige Bewohner in noch ärmlichere Gegenden verdrängt oder zwangsumgesiedelt werden.

Literatur ist in Brasilien noch immer einer nicht allen Bevölkerungsschichten zugäng­lichen Hochkultur zugeordnet – ein Erbe der kolonialen Vergangenheit des Landes. Vergleichsweise spät wurden in Brasilien der Buchdruck eingeführt und die ersten Universitäten gegründet. Erst 1888 schaffte Brasilien als letztes westliches Land die Sklaverei ab. Der Ausschluss der afrobrasilianischen Bevölkerung aus dem Bildungssystem wirkt bis heute nach. So gibt es noch immer eine relativ große Zahl funktionaler Analphabeten unter den Afrobrasi­lianern in den Favelas.
Der literarische Kanon Brasiliens kennt nur wenige Texte afrobrasilianischer Autoren. Die Ausgrenzung führte nicht zuletzt zur Herausbildung von Kulturformen in den Favelas, die sich häufig auf Mündlichkeit stützen. Die heute in vielen westlichen Ländern populäre Kampfkunst Capoeira geht auf die während der Kolonialzeit in Brasilien eingeschifften Sklaven aus Afrika zurück, die den Tanz praktizierten und weiterentwickelten. Auch der Samba war ursprünglich ein Tanz afrikanischer Sklaven. Auch der dem US-amerikanischen Funk à la Miami Bass entlehnte Baile Funk bedient sich häufig bei Elementen der afrobrasilianischen Musik. Ähnliches gilt für die verschiedenen Spielarten des hauptsächlich aus São Paulo, immer häufiger auch aus Rio de Janeiro kommenden Rap und HipHop. Das Neuste ist der seit einigen Jahren populäre Dança do passinho, ein vor allem von Jugendlichen aus Rios Favelas kreierter sportlicher Einzeltanz, der mit komplizierten Schrittfolgen zu den Rhythmen von Baile Funk getanzt wird. Auffallend oft verboten werden Veranstaltungen, auf denen aus der afrobrasilianischen Kultur stammende Tänze gezeigt werden. Besonders betroffen sind Baile-Funk-Konzerte, die am Wochenende in unzähligen Favelas des Großraums Rio stattfanden. Von der Militärpolizei werden sie mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht, deshalb fallen sie unter die berüchtigte »Resolution 013« aus dem Jahre 2007, die die sofortige Auflösung einer Tanzveranstaltung ermöglicht. Mehrere Tausend Cariocas, wie die Bewohner Rio de Janeiros auch genannt werden, verloren damit die Möglichkeit, sich zu amüsieren – und viele von ihnen sogar ihre Arbeit. Manche Baile-Funk-Künstler emigrierten nach Japan, um dort als DJ, MC, Elektriker, Tänzer oder Unternehmer in der Musikbranche weiterzuarbeiten. Samba-Runden in »befriedeten« Favelas werden meist geduldet, allerdings auf eigens dafür reservierten Plätzen und oft mit Sperrzeiten belegt.
Das Lesen und Schreiben wird dagegen von der UPP Social gefördert. So wurde in den Favelas Babilonia und Chapeu Mangueira in der Südzone von Rio ein Projekt aufgelegt, in dessen Rahmen Militärpolizistinnen einmal in der Woche mit einem Koffer voller Bücher in einen Kindergarten gehen, um dort Märchen vorzulesen. Zitiert wird eine Militärpolizistin namens Sheila mit den Worten: »Ich bestehe darauf, in Uniform vorzulesen, mit meiner Pistole im Halfter. Die Kinder sollen merken, dass auch ich nur ein ganz normaler Mensch bin.«

Mittlerweile gibt es sogar ein eigenes Literaturfestival der Befriedungspolizeilichen ­Einheiten, das unter anderem vom Hauptkommando der UPP initiiert wurde. Das FLUPP – der Name soll an das größte internationale Literaturfestival in Brasilien FLIP erinnern – will »die Menschen in den Favelas zu Lesern zu machen«, erklärte Julio Ludemir, ehemaliger Fa­vela-Bewohner, Schriftsteller und einer der Mitorganisatoren des Festivals, gegenüber der Tageszeitung O Globo. Im November 2012 fand das Festival unter der Schirmherrschaft der UPP zum ersten Mal in der Favela Prazeres statt. Auf dem Werbebanner des Festivals prangte neben den Gesichtern junger und älterer Leser aus der Favela auch das Bildnis einer Befriedungspolizistin mit Militärbarett. Die Lesungen, Diskussionsrunden und Konzerte fanden in der »beschützenden« Nähe eines großen Aufgebots an uniformierten Befriedungspolizisten statt.
Den vom Publikum eher uninteressiert wahrgenommenen Darbietungen eines Duos liba­nesischer HipHopper folgte der bejubelte Auftritt des brasilianischen Rappers MV Bill, und zum Abschluss des Festivals fand der Ausscheidungswettbewerb für den besten Tänzer des Dança do passinho statt. Ironischerweise gehören die beiden letzten Acts zu jener Kategorie von Veranstaltungen, die normalerweise von der Militärpolizei in den Favelas verboten werden.
Der im Rahmen des Festivals erschienene Band »FLUPP Pensa. 43 Novos Autores« präsentiert Kurzgeschichten, Chroniken und Gedichte von Nachwuchsschriftstellern mit einem Bezug zur »Peripherie«, wie es heißt. Hier schreiben jüngere Autoren aus den Armenvierteln oder aus dem Umland Rios. Die Geschichten handeln von Armut, Gewalt und Drogenhandel, aber auch vom Alltags- und Liebesleben der Menschen, ihren Sorgen, Wünschen und Träumen. Mitunter geschieht dies auf poetische oder gar experimentelle Weise, es gibt beispielsweise eine Lebensbetrachtung aus der Sicht eines Kugelschreibers. In der Öffentlichkeit wird das Buch als Förderung junger Autoren aus den Favelas inszeniert, allerdings stammen nicht wenige Texte von Studenten aus Mittelklassebezirken – und von Militärpolizisten.