Die phantastischen Werke von Moacyr Scliar

Wenn Kafka Samba tanzt

Die Auseinandersetzung mit seinen jüdischen Wurzeln führte ihn in phantastische Gefilde: Gleich drei Werke des brasilianischen Schriftstellers Moacyr Scliar erscheinen jetzt in deutscher Übersetzung.

Im Jahr 2002 wurde bekannt, dass der kanadische Autor Yann Martel die Idee für seinen Bestseller »Life of Pi« bei dem brasilianisch-jüdischen Schriftsteller Moacyr Scliar abgeschaut hatte. Damals hörten viele Scliars Namen zum ersten Mal. Leider änderte der Wirbel um das Plagiat nichts daran, dass die Bücher von Moacyr Scliar in Deutschland nur noch antiquarisch zu erhalten waren. Im Rahmen der diesjährigen Buchmesse in Frankfurt mit Brasilien als Gastland werden nun endlich die wichtigsten Werke des 2011 verstorbenen Scliar auch den deutschsprachigen Lesern wieder zugänglich gemacht.
Moacyr Scliar kam 1937 als Kind zweier jüdischer Emigranten aus Bessarabien im mehrheitlich jüdischen Viertel Bom Fim der südbrasilianischen Stadt Porto Alegre zur Welt. Er studierte Medizin in Brasilien und Israel und veröffentlichte sein erstes Buch bereits 1962. In den folgenden Jahren konzentrierte er sich zunächst auf seine wissenschaftliche Karriere; erst ab Mitte der Siebziger widmete er sich hauptberuflich dem Schreiben. Seitdem gilt er in Brasilien als einer der wichtigsten Autoren; im Jahr 2003 wurde er Mitglied der renommierten Brasilianischen Akademie der Literatur. Mit mehr als 80 Buchveröffentlichungen und wöchentlichen Zeitungskolumnen war er zudem einer der produktivsten Schriftsteller des Landes. Seine Geschichten stehen gleichrangig mit denen anderer jüdischer Literaten wie Scholem Alejchem, Samuel Agnon, Franz Kafka und Philip Roth. Sie bestechen durch schräge, komische, aber vor allem einmalige jüdische Charaktere, die versuchen, Sinn in eine aus den Fugen geratene Welt zu bringen.
Einer davon ist Benjamin Kantarovich, auch »Ratinho« genannt. Er ist der Protagonist in Scliars Novelle »Kafkas Leoparden«, die im Lilienfeld-Verlag erschienen ist. Das Bändchen ist nicht zuletzt deshalb spannend, weil es eine Art literarische Brücke vom alten Europa, der Welt des osteuropäischen Schtetls, in die neue Welt Brasiliens schlägt.
In den Wirren des Ersten Weltkriegs übernimmt der unbedarfte junge Ratinho von seinem erkrankten Freund Jossi den Auftrag, eine geheime Nachricht an den in Prag weilenden Leo Trotzki zu übermitteln. Ratinho verliert den Brief jedoch. Durch Zufall lernt er den mysteriösen Franz Kafka kennen, den er als seinen Kontaktmann ansieht. Kafka überreicht Ratinho einen Zettel mit dem Gedicht »Leoparden im Tempel«, das Ratinho für eine kryptische Nachricht des Genossen hält. Es gelingt ihm aber nicht, einen Sinn aus den Worten herauszulesen, so dass er sich sein Scheitern eingestehen muss und desillusioniert in sein Schtetl zurückkehrt.
Der zweite Teil der Geschichte spielt in Brasilien, wohin die Familie Kantarovich emigriert ist. Doch Kafkas kurzer Text lässt Ratinho auch dort nicht los. In den Sechzigern verhindern die geheimnisvollen Zeilen Kafkas sogar, dass Ratinhos Großneffe Jaime der Militärjunta zum Opfer fällt.
Die Novelle ist Scliars Hommage an sein großes Vorbild Kafka, dessen fragmentarische Notiz hier zur Rettung vor dem Kommunismus und später dem Militär dient. Die Geschichte ist nicht nur eine brillante Parabel auf die politischen Irrungen und Wirrungen vieler junger osteuropäischer Juden während und nach dem Ersten Weltkrieg, sie ist auch ein phantastisches Plädoyer für die Literatur als Waffe gegen jede Ideologie.
Das größte Verdienst Moacyr Scliars ist es, mit seinen Geschichten über das jüdische Brasilien einen ganz eigenen, wundervollen Kosmos erschaffen zu haben. Am eindrucksvollsten ist ihm dies wohl in seinem großen Erstlingsroman »Der Krieg in Bom Fim« gelungen, der jetzt mit 40jähriger Verspätung bei Hentrich & Hentrich erstmals auf Deutsch erschienen ist. Auf wunderbare Weise gelingt es Scliar, Charaktere zu schaffen, die an die Meister der modernen jüdischen Literatur wie Alejchem oder Scliars zweites großes Vorbild, Isaak Babel, erinnern. »Der Krieg in Bom Fim« spielt während des Zweiten Weltkriegs im gleichnamigen Viertel der Stadt Porto Alegre. Scliar, der in diesem Stadtteil aufgewachsen ist und dort bis zu seinem Tod lebte, entwirft darin einen Mikrokosmos, in dem Sympathisanten des Nationalsozialismus auf die jüdischen Bewohner treffen. Europa trifft auf die Neue Welt, die Traditionen aus dem osteuropäischen Schtetl werden neben dem Karneval, dem Churrasco und dem Chimarrão gepflegt. Die Hauptfiguren sind Samuel und seine Frau Shendl, jüdische Einwanderer aus Osteuropa, sowie ihre beiden Söhne Joel und Nathan. Die Söhne verteidigen zusammen mit ihren Freunden das Viertel erfolgreich gegen einen imaginierten Angriff der Nazis. Die Schilderung des Krieges gegen die Deutschen zeigt Scliar als einen Meister der phantastischen Erzählung. Am Niedergang des jüdischen Lebens in Bom Fim ändert die Niederschlagung der Naziattacke allerdings nichts. Nathan stirbt, die Mutter Shendl wird verrückt, Joel und sein Vater Samuel verlassen das Viertel, die alten Häuser werden durch Hochhäuser ersetzt. Der Krieg ist vorbei, mit ihm sind aber auch das lebendige Viertel und seine Menschen verschwunden. Scliar gelingt eine traurig-schöne Hommage an sein Viertel, gleichzeitig beschreibt er die Fliehkräfte der Moderne, die zum Ende der traditionellen jüdische Gemeinschaft geführt haben.
Mit dem Roman »Der Zentaur im Garten« präsentiert Hoffmann und Campe die deutsche Neuauflage des wichtigsten Werks Moacyr Scliars. Der Roman steht auf der Liste der 100 wichtigsten Bücher der jüdischen Gegenwartsliteratur des amerikanischen National Yiddish Book Center. Es ist ein großes Epos über das Leben des in Südbrasilien als Zentaur geborenen Juden Guedali Tartakovsky. In dem phantastischen Roman über die jüdische Identität wird abermals der Einfluss Kafkas und Isaak Babels spürbar. Die Eltern erziehen Guedali trotz seiner monströsen Gestalt, halb Mensch, halb Pferd, wie jedes andere jüdische Kind. Bald ziehen sie vom Land in die Stadt, in der Hoffnung, dass der Sohn dort weniger auffällt. Aber auch dort lebt der sensible Guedali isoliert, nur ab und an darf er in den Garten des Hauses. Er hält es nicht aus und flüchtet. Auf seiner Flucht trifft er auf Randgestalten der Gesellschaft; so auch auf die nicht-jüdische Zentaurin Tita, mit der er fortan zusammenlebt. Sie entschließen sich dazu, sich die nicht-menschlichen Teile ihres Körpers entfernen zu lassen. Am Ende scheint es so, als seien alle Probleme nur der Phantasie Guedalis entsprungen – oder doch nicht? Scliar überlässt es dem Leser, dies zu entscheiden. Der Roman ist eine eindrucksvolle Parabel auf das Leben als Jude in einer nicht-jüdischen Welt.

Moacyr Scliar: Kafkas Leoparden. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler. Lilienfeld-Verlag, Düsseldorf 2013, 160 Seiten, 18,90 Euro
Der Krieg in Bom Fim. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Marlen Eckl. Hentrich & Hentrich, Berlin 2013, 142 Seiten, 14,90 Euro
Der Zentaur im Garten. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler. Hoffmann und Campe, München 2013, 288 Seiten, 19,99 Euro