Die französische Regierung diskriminiert Roma

Die Berufung des Ministers

Härter als die konservative Vorgänger­regierung geht Manuel Valls, der sozialdemokratische Innenminister Frankreichs, gegen Roma vor.

Manuel Valls hat große Pläne. Derzeit ist er Innenminister und bei Polizisten ist er als Vorgesetzter beliebt. Aber er strebt nach höheren Weihen. Offen erklärte er seine Ambition, Präsident zu werden. Um diesem Ziel näher zu kommen, posierte er mit seiner Gattin in der Boulevardzeitschrift Paris Match. Doch Valls muss sich auch politisch profilieren und dies versucht er unter anderem auf Kosten der Roma.
Auch Nicolas Sarkozy war zunächst Innenminister und wurde später Präsident. Als Vorbild würde Valls ihn wohl nicht nennen, doch gewisse Ähnlichkeiten sind nicht abzustreiten. Vor gut einem Jahr konnte es noch als übertriebene Behauptung von Linksradikalen durchgehen, unter dem rechten Sozialdemokraten Valls würden mehr Roma abgeschoben und aus ihren proviso­rischen Siedlungen vertrieben als zuvor unter der rechten Regierung Sarkozys. Doch inzwischen hat Valls seinen Vorgänger tatsächlich überholt.
Ende September veröffentlichten die französische Liga für Menschenrechte (LDH) und Amnesty International Zahlen über die Zwangsräumungen von Roma. Im Sommer und Herbst 2010 wurden über 9 000 in Barackensiedlungen und pro­visorischen Behausungen lebende Roma vertrieben, im Jahr 2012, in dessen erster Hälfte Sarkozy regierte, der dann von dem Sozialdemokraten François Hollande abgelöst wurde, waren es 11 982. Diese Zahl dürfte in diesem Jahr noch übertrof­fen werden, denn allein in den ersten sechs Monaten waren bereits 10 174 Roma von den Räumungen betroffen.
Dabei ist es nicht so sehr der Abriss von Elendssiedlungen ohne Wasseranschluss und mit schlechten hygienischen Bedingungen – die Gesamtzahl ihrer als Roma geltenden Bewohner in Frankreich wird mit knapp 17 000 angegeben –, der kritisiert wird, sondern die Tatsache, dass keine Umzugsmöglichkeiten angeboten werden. Die Betroffenen verlieren Wohnraum und Hausrat, meist müssen sie sich unter noch schlechteren Bedingunen einige Kilometer weiter ansiedeln. Die Regierung kann auf diese Weise dem Wahlvolk ihren Handlungswillen unter Beweis stellen, während auf fast allen anderen Gebieten, vor ­allem in sozialen und ökonomischen Fragen, einfach nur verwaltet wird.
Dass diese Politik eine der am stärksten marginalisierten Gruppen trifft, wird nicht nur in Kauf genommen. Ressentiments werden bewusst geschürt. Auch hierin Sarkozy ähnlich, hat Manuel Valls sich entschieden, die Räumungen mit martialischen Sprüchen zu begleiten. Am 24. September sagte er in einem Interview mit dem Sender Radio France Inter: »Diese Bevölkerungen haben Lebensweisen, die sich extrem von den unseren unterscheiden und die natürlich in Konfrontation mit ihnen stehen.« Auf diese Weise kulturalisierte und naturalisierte er Wohn- und Lebensstile, die sich überwiegend aus der sozialen Situation erklären sowie aus den Folgen einer Ghettoisierung – die anhält, seit die Roma in Südosteuropa um 1850 offiziell aus der Sklaverei entlassen wurden. Valls fügte hinzu, »nur eine Minderheit« der Roma könne sich in Frankreich »integrieren«. Einige Tage darauf präzisierte er, die in einigen Kommunen erprobten Übergangssiedlungen und Integrationsversuche könnten »nur einige Dutzend Familien betreffen«.
Viel kommentiert wurde auch Valls Aussage: »Die Roma sind dazu berufen, nach Rumänien und Bulgarien zurückzukehren.« Die französische Formulierung »ont vocation à« postuliert einen unentrinnbaren Zwang – ausweisen aber kann Valls die meisten Roma nicht, da sie EU-Bürger sind. Der frühere KP-Abgeordnete Jean-Claude Lefort verfasste einen vielbeachteten offenen Brief an Valls, in dem der Verfasser seine eigene »Zigeunerherkunft« herausstellt. Er schreibt, Valls sei auf ähnliche Weise bei seiner Volljährigkeit »berufen« gewesen, nach Spanien zurückzukehren. Valls wurde in Barcelona geboren und da die Franco-Diktatur in seiner Jugend vorbei war, entfielen nach den Maßstäben des Innenministeriums die Aufenthaltsgründe für Valls Familie. Sein Geburtsland war damals noch nicht Miglied der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, aus der die EU hervorging.

Valls Aussagen riefen Ende September zum ersten Mal auch Kritik bei Mitgliedern der Regierung hervor. Die Wohnungsbauministerin Cécile Duflot meldete sich bei einer Abgeordnetentagung ihrer Partei, der Grünen, in Angers mit der Bemerkung zu Wort, Valls sei »über das hinausgegangen, was den republikanischen Pakt« – also den demokratischen Gesellschaftsvertrag – »gefährdet«. Zwei Tage später pflichtete ihr der Staatssekretär für Verbraucherschutz, Benoît Hamon, vom linken Parteiflügel der Sozialdemokratie bei. Er nannte zwar Valls nicht beim Namen, aber als er bei einem Kongress in Vieux-Boucau »Grenzüberschreitungen, die mir missfallen« anprangerte, war allen klar, was gemeint war. Die konservative Opposition tobte und forderte Präsident François Hollande zu einer Klarstellung auf, er solle zeigen, dass es einen Herrn im Hause gebe.
Das Staatsoberhaupt äußerte sich nicht klar zur Sache, was er bei Streitfällen ohnehin selten tut. Es wurde jedoch eine technokratische Lösung gefunden, nunmehr sind alle Minister aufgefordert, ihre Wortmeldungen Premierminister Jean-Marc Ayrault vorzulegen, bevor sie sich in der Öffentlichkeit äußern. Unterdessen ergaben Umfragen, dass zwei Drittel der französischen Gesellschaft Valls gegen Duflot unterstützen. Bei den Popularitätsumfragen erlangte Valls Anfang Oktober 70 bis 71 Prozent an Zustimmung, fast drei Mal so viel wie François Hollande.

Innenpolitisch scheint Valls also eine erfolgversprechende Methode für seine Profilierung gefunden zu haben. Doch als Mitglied der EU ist Frankreich Verpflichtungen eingegangen. Wie ­bereits im September 2010, als noch Sarkozy regierte, kritisierte die EU-Kommissarin für das Justizwesen, Viviane Reding, erneut die französische Politik gegenüber den Roma und erinnerte daran, dass die EU-Bürger unter ihnen – etwa die rumänischen und bulgarischen Roma – Freizügigkeit genießen. Ein konservativer Abgeordneter, Philippe Meunier, forderte: »Reding, zieh Leine!« Einer solchen verbalen Aggressivität gegenüber EU-Repräsentanten hatten sich 2010 auch die Konservativen noch enthalten.
Überdies haben sowohl Valls als auch konservative Oppositionspolitiker die derzeit statt­findenden Gespräche über die Erweiterung des Schengen-Raums auf Bulgarien und Rumänien für Forderungen hinsichtlich der Roma-Politik genutzt. Bei den Schengen-Abkommen geht es um die Einreise und den Verkehr von Bürgern aus Staaten, die nicht der EU angehören, und ­gemeinsame Kontrollen an den Außengrenzen, die Verhandlungen haben also mit der Freizügigkeit für Roma aus den beiden Ländern nichts zu tun. Doch Valls und der frühere konservative Minister Laurent Wauquiez fordern die Aussetzung der Ausweitung des Schengen-Raums, ­solange Rumänien und Bulgarien die Roma nicht besser integrieren und von der Ausreise abhalten würden. Der Konflikt mag nur symbolisch sein, es ist jedoch bezeichnend, dass aus innenpolitischen Erwägungen ein Affront gegen Rumänien und Bulgarien in Kauf genommen wird.
Überdies könnte die offizielle Ausgrenzungs- und Repressionspolitik rechtsextreme Gewalt­täter ermutigen. Verbale Eskalation in dieser Hinsicht betrieb der konservative Bürgermeister von Croix, Régis Cauche. Er bekundete Ende September prophylaktisch, falls einer der Einwohner seiner Kommune, in der sich bis Ende September ein Camp befand, dessen Bewohnern Diebstahl unterstellt wurde, in »Notwehr« mit dem Gewehr auf einen Roma losgehe, »dann stehe ich hinter ihm«.