National im Klassenzimmer

Umfragen bescheinigen dem französischen Front National derzeit eine große Zustimmung unter den Wählern. Mit der Lehrerschaft kann er sich ein neues Milieu erschließen. Mit homosexuellen und ­migrantischen Kandidaten möchte er seine vermeintliche Öffnung demonstrieren.

Eine stattliche Prozentzahl zierte jüngst das Titelblatt des sozialliberalen Wochenmagazins Le Nouvel Observateur. »24 %« war die Überschrift, der Untertitel dazu lautete: »Die Umfrage, die Angst bereitet«. Es handelte sich um das Ergebnis einer Anfang Oktober erstellten Repräsentativbefragung von knapp 1 900 ausgewählten Französinnen und Franzosen im Hinblick auf die im Mai 2014 bevorstehenden Wahlen zum Europaparlament. Demnach würde der Front National (FN) mit 24 Prozent der abgegebenen Stimmen in Frankreich auf dem ersten Platz landen. An zweiter Stelle stünde die konservativ-wirtschaftsliberale UMP mit 22 Prozent, gefolgt von den Sozialdemokraten auf dem dritten Platz mit 19 Prozent.

Eine andere Umfrage ergab eine knappe Woche später, dass 46 Prozent der Befragten Marine Le Pen als »beste Konkurrentin« des Präsidenten François Hollande beurteilen. Weit abgeschlagen folgten die konservativen Politiker François Fillon und Jean-François Copé mit 18 und 13 Prozent sowie der Linke Jean-Luc Mélenchon mit ebenfalls 13 Prozent.
Nicht nur in Umfragen äußert sich die Popularität des FN. Am vorletzten Sonntag gewann ein Kandidat der Partei, Laurent Lopez, mit 53,4 Prozent die Bezirksparlamentswahl im südostfranzösischen Brignoles, im Hinterland der Côte d’Azur. Die Stichwahl trugen die UMP und die ex­treme Rechte unter sich aus, die linken Parteien waren im ersten Durchgang ausgeschieden. Sozialdemokraten und Grüne bezahlten wohl vorwiegend für ihre ausgesprochen unpopuläre Regierungspolitik in Paris.
Der Sitz von Brignoles ist im Augenblick der einzige für den Front National in den Bezirksparlamenten. Diese werden nach dem Mehrheitswahlrecht besetzt. Umso höher war der Symbolwert dieser Bezirksparlamentswahl. Die Beteiligung war zwar zunächst niedrig, 67 Prozent der Wahlberechtigten enthielten sich im ersten Durchgang der Stimme, so dass der Erfolg des FN in geringem Maß relativiert werden muss. In der Stichwahl stieg die Wahlbeteiligung allerdings erheblich.
In ganz Frankreich werden am 23. und 30. März kommenden Jahres die Kommunalvertretungen neu gewählt. Der FN hat bereits 700 Spitzenkandidaten und -kandidatinnen aufgestellt. Er will in den meisten großen und mittleren Städten gegen die anderen Parteien antreten, während in den kleinen und sehr kleinen Kommunen oft nur parteifreie »Listen für das kommunale Gemeininteresse« antreten. Am 3. Oktober wurde Christophe Borgel, der für die Vorbereitung der Wahlen zuständige Parteisekretär der Sozialdemokraten, in der Tageszeitung Le Figaro mit den Worten zitiert, eventuell könne der FN sein Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl 2012 – landesweit 17,9 Prozent der Stimmen – angesichts der derzeitigen Stimmung vielerorts noch um »zehn bis 15 Prozentpunkte« übertreffen.

Die rechtsextreme Partei bemüht sich vielerorts um ein eher untypisches, auf den ersten Blick überraschendes Auftreten. Mitunter hat der FN sehr junge Bewerberinnen und Bewerber aufgestellt, in Strasbourg kandidiert beispielsweise die 21jährige Julia Abraham auf dem zweiten Listenplatz. Ungewöhnlicher noch erscheint bei oberflächlicher Betrachtung das Profil anderer Kandidaten. In Saint-Martin-d’Hères im Umland von Grenoble etwa tritt als Spitzenkandidat für den FN ein früheres Mitglied der Sozialistischen Partei an, Mungo Shematsi, ein Franzose togolesischer Abstammung. Mancherorts treten bekennende Homosexuelle, wie im elften Pariser Bezirk, oder Franzosen migrantischer Herkunft an, die sich von der vermeintlich auf eine Öffnung abzielenden Parteilinie von Marine Le Pen beeindrucken lassen. Sie wendet sich zwar scharf gegen jede Zuwanderung, behauptet aber zugleich, die eingebürgerten »Landsleute mit ausländischen Wurzeln« integrieren zu wollen, und richtet sich hauptsächlich gegen angeblich integrationsunwillige Muslime. Davon können sich auch manche Franzosen mit ausländischen Eltern angezogen fühlen, in der Hoffnung, dadurch ihre besonders gute »Integration« unter Beweis zu stellen. So gelangten einige Bewerber mit eher unerwartetem Hintergrund auf die Listen des FN. Ein klassisches Profil pflegt dagegen Anne-Sophie Leclere, Spitzenkandidatin in der Gemeinde Rethel. Ihre Bewerbung wurde am Wochenende zurückgezogen, weil sie die schwarze Justizministerin Christiane Taubira mit einem Affen verglichen und als »eine Wilde« bezeichnet hatte.
Zu den Gruppen, die man beim FN bislang nicht erwartet hatte, zählen auch Lehrerinnen und Lehrer. Bis vor kurzem schien die rechtsextreme Partei bei ihnen kaum Erfolg zu haben, auch wenn in den vergangenen drei bis vier Jahren eine rechte Internetpublikation unter dem Namen Riposte Laïque (ungefähr: »Die Laizisten schlagen zurück«) unter den Lehrkräften mancherorts ­einen gewissen Einfluss zu gewinnen begann. Diese ursprünglich von ehemaligen Linken gegründete Publikation agitiert und hetzt unter dem Vorwand der Religionskritik ausschließlich gegen Muslime. Anfänglich erhob sie einen überparteilichen Anspruch, seit 2010 unterstützt Riposte Laïque offen Marine Le Pen. In diesem Jahr radikalisierte sie sich noch weiter. Nach dem gewalt­samen Tod des jungen Antifaschisten Clément Méric im Juni sowie im September, diesmal zusammen mit Anhängern gewalttätiger Gruppen wie der inzwischen verbotenen Vereinigung Troisième Voie, rief sie zu Anti-Antifa-Demonstrationen auf.
Die Lehrerschaft wahrte in der Zeit, als Jean-Marie Le Pen, der Vater der derzeitigen Vorsitzenden, den FN anführte, erhebliche Distanz zu der rechtsextremen Partei. Unter dem früheren Vorsitzenden forderte der FN etwa eine Förderung katholischer Privatschulen, faktisch sogar ihre Bevorzugung gegenüber dem kostenlosen öffent­lichen Bildungswesen. Im Namen der freien Schulwahl sollte die Förderung durch die öffentliche Hand auch dem zahlungspflichtigen konfessionellen Schulwesen zugute kommen. Die Eltern sollten über einen aus Steuermitteln finanzierten »Bildungsscheck« verfügen, den auch die Privatschulen in Geld hätten umwandeln können. Die Forderung kam bei den Lehrern im öffentlichen Schulwesen nicht gut an.
Doch unter Marine Le Pen hat der FN einen politischen Wandel vollzogen. Auf wirtschaftspolitischem Gebiet vertritt er seit einigen Jahren eine eher protektionistische und etatistische Politik. Diese Abkehr vom ungetrübten Wirtschafts­liberalismus zeigt sich auch in der Schulpolitik des FN. Nunmehr präsentiert die Partei sich als Unterstützerin des öffentlichen Schulwesens. Allerdings will sie verstärkt vermeintliche Tugenden wie Disziplin und Ordnung vermittelt und eine strenge Auswahl nach Noten angewandt wissen sowie das collège unique, das als Gesamtschule angelegte Mittelschulwesen, zugunsten getrennter Schulzweige abschaffen. Und selbstverständlich soll der Lehrplan etwa im Geschichtsunterricht im nationalen Sinne verändert werden. Dem Sportunterricht kommt ein hoher Wert zu: mens sana in corpo sano!

Dadurch konnte die Partei nun auch einige Lehrkräfte anwerben, die sich offen zum FN bekennen. Am 12. Oktober gründete sich in Paris, in Anwesenheit der Parteivorsitzenden Marine Le Pen, das »Collektive Racine«, eine Gegendemonstration wurde verboten. Die Gruppe behauptet, etwa 90 Mitglieder aus der Lehrerschaft zu haben. Der Name ist doppeldeutig: Einerseits bezieht er sich auf den klassischen französischen Autor aus dem 17. Jahrhundert, Jean Baptiste Racine, an­dererseits bedeutet la racine übersetzt »die Wurzel«, bezeichnet also einen hohen Wert der ex­tremen Rechten in Bezug auf Nation und Kultur. Die Führungsriege der neuen Vereinigung, allen voran die Schuldirektorin Valérie Laupis, unterstützte in der Mehrzahl vor zehn Jahren noch den nationalistischen und als »EU-Kritiker« profilierten ehemaligen Sozialdemokraten Jean-Pierre Chevènement. Er war in den achtziger Jahren Bildungsminister und bevorzugte ebenfalls ein autoritäres Konzept des Bildungswesens.