Die Probleme der deutschen Ganztagsschulen

Die Schule braucht Rhythmus

Dass es immer mehr Ganztagsschulen in Deutschland gibt, wird bejubelt. Dass auch diese Schulen ihr Ziel verfehlen, zeigt ein neues Gutachten.

Selbst wer nur gelegentlich und selektiv einen Blick in die große Menge an Expertisen, Konzepten und Studien zur Bildungspolitik in Deutschland wirft, kennt den typischen Tonfall dieser Veröffentlichungen: Alles ist schlimm, es kann so nicht weitergehen. Dabei kann es, aus Sicht der Arbeitgeber, um das Bildungssystem nicht so schlecht stehen, zumindest wenn es um die anschließende Verwertbarkeit der Arbeitskraft der Schüler und Studenten geht. Schließlich ist Deutschland auch in diesem Jahr wieder im Begriff, den Titel des Exportvizeweltmeisters zu erringen.

Einen plausiblen Anlass, den Bildungsbereich immer wieder zu untersuchen, bietet hingegen der derzeitige Leitgedanke der Schulpolitik: das Sparen. Jüngstes Beispiel ist die Verwirklichung der Ganztagsschulbetreuung in den einzelnen Bundesländern. Was mit unglaublichem und deshalb zu Skepsis verleitendem politischen Getöse angekündigt wurde, entpuppte sich zwar zunächst als wirklich gute Idee. Für die Einrichtung einer großen Zahl an Ganztagsschulen mit einem guten Betreuungsangebot sollte eine erhebliche Summe Geld investiert und den Eltern so endlich die Vereinbarung von Beruf und Kindern ermöglicht werden.
Die Realität sieht jedoch anders aus. Der Aktionsrat Bildung stellt in seinem Gutachten »Zwischenbilanz Ganztagsgrundschulen: Betreuung oder Rhythmisierung?« im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (VBW) fest, dass der Ausbau der Ganztagsgrundschulen – wen wundert’s? – fast flächendeckend zum günstigen Preis umgesetzt wird. Zurzeit werden drei Schultypen eingeführt: die voll gebundene Schule, an der an drei Nachmittagen Anwesenheitspflicht besteht, die teilweise gebundene, an der ein Teil der Schüler verpflichtet ist, an drei Nachmittagen zu bleiben, und die offene Form, bei der die Teilnahme am Nachmittagsprogramm freiwillig ist. Es ist nicht allzu schwer zu erraten, welche Form am kostengünstigsten ist und demnach annähernd flächendeckend eingeführt wird: die offene Form. Fast 85 Prozent aller Grundschulen sind als offene Ganztagsschulen organisiert, lediglich zwei Prozent sind als voll gebundene Schulen eingerichtet. Das heißt, dass die überwiegende Zahl der Ganztagsgrundschulen auf freiwilliger Basis beruht und über kein wirkliches Ganztagsprogramm verfügt.
Die Forscher des Aktionsrats sind alarmiert, denn zum Beispiel nimmt im Schnitt nur jeder zweite Schüler am gemeinsamen warmen Mittagessen teil. Der Nachmittag besteht oftmals aus »Angeboten«, die von unterbezahlten Arbeitskräften betreut werden. »Insbesondere im Bereich des weiteren pädagogischen Personals kann davon ausgegangen werden, dass prekäre Beschäftigungsverhältnisse keine Ausnahme sind. Dies scheint vor dem Hintergrund der großen Verantwortung dieser Personengruppe keineswegs gerechtfertigt«, warnen die Wissenschaftler in ihrer Zwischenbilanz. In Hamburg etwa arbeitet ein Großteil der Mitarbeiter als Honorarkräfte für zehn Euro die Stunde bei einer Arbeitszeit von 13 bis 17 Uhr. »Diesen Job kann man nur machen, wenn man alleine lebt und mit wenig Geld auskommt. Zum Leben reicht es nicht und mehr Stunden kann man organisationsbedingt auch nicht arbeiten«, sagt Ute Krüger, die in der Nachmittagsbetreuung einer Hamburger Grundschule arbeitet.

Fast ein Drittel der Schulleiter gibt darüber hinaus die Verantwortung für den Nachmittagsbetrieb vollständig in die Hände von Schulvereinen, Sportvereinen oder anderen Trägern. Viele Ländergesetze stellen auch keinerlei Mindestanforderungen für die Qualifikation der zusätzlichen Arbeitskräfte. So verwundert es nicht, dass der Eimsbütteler Turnverein (ETV) in Hamburg in einem Aushang Mitarbeiter für die schulische Nachmittagsbetreuung suchte, an die nur eine einzige Mindestanforderung gestellt wurde: Die Interessenten mussten 18 Jahre alt sein.
Größere Chancengerechtigkeit für die Kinder entsteht den Erkenntnissen der Forscher zufolge durch die Dumping-Ganztagsschulen nicht. Denn Kinder aus benachteiligten Familien nehmen in den offenen Ganztagsgrundschulen selten am Nachmittagsprogramm teil. Die Eltern können so den einen oder anderen Euro sparen. Der Aktionsrat Bildung ist sich einig, dass nur die gebundene Ganztagsgrundschule in sogenannter rhythmisierter Form zum Erfolg führen könne. Rhythmisierte Form bedeutet, dass sich über den Tag verteilt Unterricht, Betätigungsangebote und Freizeit abwechseln. So würde die starre Aufteilung – morgens Lernen, nachmittags Langeweile – wegfallen. Doch die Schulen in rhythmisierter Form zu betreiben, wäre freilich bedeutend teurer als in offener Form.
Der VBW fordert als Zusammenschluss bayerischer Unternehmer genau diesen Ausbau. Als Begründung dient der Mangel an Fachkräften. »Mit Blick auf die Fachkräftelücke müssen wir Bildungsbeteiligung und -qualität sowie die Partizipationsgerechtigkeit der nachwachsenden Ge­nerationen erhöhen«, sagt der VBW-Präsident Alfred Gaffal. Sogar die Wirtschaft lässt also das über Jahrzehnte unverrückbar scheinende Prinzip der Schülersortierung fallen. »Der Verband verfolgt schon seine eigenen Interessen mit dem Aktionsrat Bildung. Man kann das als Lobbyarbeit sehen. Aber in meiner Forschung war ich absolut frei«, sagt Heike Wendt, die als externe Expertin an dem Gutachten mitgewirkt hat, im Gespräch mit der Jungle World. Doch auch wenn der Wirtschaftsverband die größere Verbreitung der rhythmisierten Grundschule wünscht, steht dem etwas Entscheidendes entgegen: die Kosten.