Das Resettlement-Programm der Uno für Flüchtlinge

»Integration endet nie«

Während Europa sich abschottet und Flüchtlinge um jeden Preis zurückschickt, sagt die britische Stadt Sheffield: »Schickt uns mehr davon«. Eine Reportage aus der europäischen Hauptstadt des resettlement, des UN-Programms für die internationale Umsiedlung von Flüchtlingen.

Akoi Bazzie will etwas zurückgeben. Die Stadt war gut zu ihm, von Anfang an. Also möchte er, dass auch die Besucher gut über sie denken. Sie sollen erfahren, dass Sheffield ein guter Ort zum Leben ist, eine Stadt, die willkommen heißt. Auch jemanden wie ihn, der kommen durfte, obwohl er nichts hatte und sonst vielleicht längst tot wäre.
Und so steht er an diesem Vormittag, in Anzug und Mantel, wie ein Gesandter des Fremdenverkehrsamtes vor der City Hall von Sheffield, die nicht das Rathaus ist, sondern eine Art Mehrzweckhalle am Rande des mittelalterlichen Stadtkerns. Bazzie deutet mit ausladender Geste auf die hohen Säulen am Eingang und sagt, dass man hier »sehr schöne Feiern« abhalten könne, er habe es selbst erlebt, seine eigene Abschlussfeier fand hier statt, als er 2012 an der örtlichen Universität einen Bachelor in Sozialarbeit gemacht hatte.
Akoi Bazzie wurde vor 37 Jahren in Liberia ­geboren, als er zwölf war, begann in seiner Heimat einer der blutigsten Bürgerkriege Westafrikas. 250 000 Menschen starben, eine Million wurden vertrieben, etwa jeder dritte Einwohner des Landes. Einer davon war Akoi Bazzie. 1991 flüchtete er nach Guinea, es war womöglich seine einzige Chance, dem Tod oder einem Schicksal als zwangsrekrutierter Kindersoldat zu entgehen. Zwölf Jahre lebte er in einem Flüchtlingslager, allein, angewiesen auf Lebensmittellieferungen von Hilfsorganisationen, vom UNHCR als Flüchtling anerkannt, doch ohne jede Perspektive und immer in Gefahr, wieder zwischen die Fronten zu geraten.
Das ist lange her. Heute läuft er weiter, von der City Hall zum Rathaus, einem riesigen, düsteren, mittelalterlichen Bau. »Jeden Tag heiraten hier Leute.« Er sagt es, als sei dies ein weiterer Beleg dafür, wie gut die Menschen es in Sheffield haben, so dass sie sich hier besonders gern das Jawort geben, auch heute. Auf der Straße steht ein weißer Rolls Royce, der Chauffeur hält einen Korb mit Sektgläsern, am Auto flattern blaue Schleifen, es ist eine kleine Gesellschaft, sie besteht nur aus dem Paar und dem Vater des Bräutigams, der fotografiert, sonst begleitet sie niemand in das Innere des Rathauses.
Ein paar Schritte weiter, es ist warm, die Sonne scheint, sitzen auf einer Grünfläche die ersten Büroangestellten, die Mittagspause machen, auf dem Markt haben sie sich Essen gekauft. »Der Markt ist aber zu klein, sie bauen einen neuen«, sagt Bazzie, der Platz, an dem er jetzt steht, ist etwas erhöht. »Sheffield hat sieben Hügel, wie Rom«, sagt er und deutet rund um sich. Er wohnt auf einem der Hügel, 2010 hat er hier ein Haus gekauft. Es liegt neun Meilen außerhalb, aber er verdient genug, um ein Auto zu unterhalten, und in vier Monaten werde es sowieso leichter, dann werde seine Frau ihre Ausbildung als Krankenpflegerin abgeschlossen haben und dann verdienten beide gemeinsam, sagt er.

Bazzie war einer der rund 800 000 Flüchtlinge, die das UN-Flüchtlingswerk UNHCR in den großen Flüchtlingslagern im Süden dieser Welt aufgenommen und als »person of concern«, also »schutzbedürftig« eingestuft hat. Sie leben meist in exterritorialen Camps, die vom Nothilfelager zum Dauerprovisorium werden, wenn die Fronten der Kriege in ihren Ländern sich verhärten und die Rückkehr auf Dauer zu gefährlich bleibt. Jedes Jahr versucht die UN-Organisation etwa ein Fünftel dieser Menschen in sichere Länder zu verteilen, doch die Länder Europas und Nordamerikas bieten nur halb so viele Plätze an. Und so stehen viele der UNHCR-Flüchtlinge jahrelang auf den Wartelisten für das resettlement, die Umsiedlung. Wer sich beim UNHCR umhört, der erfährt Löbliches über die USA und Kanada, die beiden Staaten zeigen sich vergleichsweise großzügig, sie bieten die meisten Plätze. Die Staaten Europas hingegen sind meist knickerig, nur Schweden sticht heraus, dorthin siedelt das UNHCR jährlich etwa 1 600 Menschen neu an. Würde jeder EU-Staat im Vergleich zu seiner Größe so viele Flüchtlinge annehmen wie Schweden, könnte das UNHCR alle Flüchtlinge unterbringen, die einen sicheren Ort besonders nötig haben. Deutschland, das rund zehn Mal so viele Einwohner hat wie Schweden, hat im vergangenen Jahr 300 resettled refugees aufgenommen, und das war schon ein Fortschritt, denn jahrelang durfte gar niemand von ihnen kommen.
Sheffield gilt, obwohl es nicht in Schweden liegt, als eine Art europäische Hauptstadt des resettlement. Seit 2004 hat die Stadt aktiv bei der Regierung in London für die Aufnahme von Flüchtlingen geworben. Sheffield ist heute eine von landesweit vier Städten, die Flüchtlinge aus dem UNHCR-Programm aufnehmen, doch nirgends sind es so viele wie hier: 800 wurden Sheffield seit 2004 zugewiesen, Flüchtlinge aus Burma, Somalia, dem Irak, Afghanistan und Liberia, wie Akoi Bazzie. Sheffield ist eine Anomalie. In einem Europa, in dem überall zu hören ist, dass zu viele Flüchtlinge kommen, dass die Kommunen vor dem Finanzkollaps stehen, sagt diese Stadt: »Schickt uns mehr Flüchtlinge.«

»Die Leute hier sind gewohnt, dass die Migranten kommen«, sagt Belinda Gallup, die bei der Stadtverwaltung für Soziales zuständig ist. Als das von der sozialdemokratischen Labour-Partei angeführte City Council 2003 entschieden hatte, sich für das Flüchtlingsaufnahmeprogramm zu melden, habe es keine öffentliche Diskussion gegeben, sagt Gallup. Im Gegenteil: »Auch die Liberalen waren einverstanden.« Den Gegenwind der Rechtsextremen fürchtete die Stadt nicht: »Wir haben Glück, die British National Party ist hier nicht stark.« Selbstverständlich ist dies angesichts der wirtschaftlichen Lage der Stadt keineswegs: Einst Zentrum der niedergegangenen Stahlindustrie Zentralenglands, hat die 550 000 Einwohner zählende Stadt trotz einer Entwicklung zur Dienstleistungsökonomie eine Arbeitslosenrate, die um rund 50 Prozent höher liegt als im Rest des Landes. »Ja, es gibt Arbeitslosigkeit«, gibt Gallup zu, »viele Osteuropäer aus den neuen EU-Staaten kommen hierher und konkurrieren mit Einheimischen um Billigjobs.« Mit der Flüchtlingsaufnahme habe dies jedoch nichts zu tun. »Die Leute, die kommen, sind sehr motiviert, ihre Kinder sind überdurchschnittlich gut in der Schule.« Zahlen über die Arbeitsmarktintegration der Angesiedelten gibt es allerdings nicht.
»In Sheffield leben 17 Prozent Nichtweiße, das ist normal für große Städte in England«, sagt Gallup. Völlig frei von Fremdenfeindlichkeit sei Sheffield freilich nicht: »Wir haben natürlich überlegt, wo wir die Flüchtlinge ansiedeln. Ein paar Stadtteile kamen dafür nicht in Frage. Wenn es dort vorher zu rassistischen Übergriffen gekommen war, schieden sie aus, ebenso wie die weißen Arbeiterstadtteile, in denen die BNP-Sympathisanten leben«, sagt Gallup.
»Man muss natürlich Überzeugungsarbeit leisten«, fügt ihr Kollege Anthony Damm hinzu. »Wenn man die Nachbarn nicht einbezieht und sie überrascht werden, wenn eines Tages plötzlich ein Bus voller Ausländer mit schreienden Kindern ankommt, dann geht es den Flüchtlingen dort nicht gut.« Damm war eine Art Lotse der Flüchtlinge für ihr neues Leben. Er hat ihnen gezeigt, wie die Waschmaschine, der Gasherd und der Duschkopf funktionieren. »Man kann sie nicht abends um zehn vor einer Wohnung absetzen und das war’s«, sagt er. Er sieht die Flüchtlingsaufnahme auch als politisches Projekt: »Sheffield ist aufgebaut auf Jahrhunderten der Migration. Die Stadt war in den dreißiger Jahren kommunistisch, es gibt hier eine lange linke Tradition, sogar einmal die (in den 80er Jahren sogenannte) Socialist Republic of ­South Yorkshire. Wir haben Flüchtlinge aus Chile aufgenommen, das ist eine Geschichte, auf die ich sehr stolz bin«, sagt er. Die Flüchtlinge hierher zu holen sei eine Investition in die Zukunft der Gesellschaft. »Wenn nicht diese Leute uns etwas zurückgeben, dann tun das mit Sicherheit ihre Kinder und ihre Enkel.«

12 000 Euro bekommt Sheffield für jeden auf­genommenen Flüchtling im ersten Jahr, jeweils die Hälfte bezahlt die Regierung in London, die andere Hälfte die EU. Ab dem zweiten Jahr muss die Kommune alleine für Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung, Wohnen und Bildung aufkommen. »Wegen des Geldes haben wir das ganz sicher nicht gemacht«, sagt Gallup. Wieso dann? »Es ist gut für die Stadt. Die Flüchtlinge sind sehr aktive Bürger, vor allem die Kinder sehr gut integriert. Und es ist auch ein Gebot der Humanität, Menschen aus diesen schrecklichen Situationen zu helfen, in denen sie gelebt haben. Alle Kommunen sollten das machen. Die Städte machen sich immer Sorgen, aber wir können aus Erfahrung sagen, dass es am Ende kein Problem gibt, es ist in Ordnung.«
Der Film »Moving to Mars« zeigt die Umsiedlung von zwei Familien aus der Bevölkerung der Karen nach Sheffield im Jahr 2007. Die Karen gelten wegen ihrer Verfolgung durch die Militärjunta in Burma als »Volk ohne Heimat«, die meisten leben eingesperrt in UNHCR-Lagern in Thailand. Als die im Film porträtierten Familien erfahren, dass sie nach Jahrzehnten im Lager ins ihnen vollkommen unbekannte England ausreisen dürfen, zeigt der Film sie in ihrer Hütte, wie sie sich ihren neuen Wohnort wie das Paradies ausmalen. Im zweiten Teil des Films sieht man die Eheleute in den neuen Häusern in einem Außenbezirk von Sheffield. Es gibt Streit, sie sprechen immer weniger miteinander, die Ödnis und die Fremdheit nagen an ihnen. Während die Kinder immer besser Englisch sprechen, leben die Erwachsenen zurückgezogen und träumen von ihrem früheren Leben im Camp, wo Not herrschte, aber keine Einsamkeit.

Auch die ebenfalls zu den Karen gehörende Moo Rah Paw kam 2007 aus einem thailändischen Lager nach Sheffield, 23 Jahre hatte sie dort vorher gelebt. »Nach einiger Zeit hier sieht man die Früchte«, sagt sie. »Meine Tochter geht seit einem Jahr auf die Universität, ich selbst mache meinen Master, mein Sohn ist im ersten Jahr im College. In Thailand wäre das völlig unmöglich gewesen. Wir wussten nie, ob unser Haus abgebrannt wird, ob die burmesischen Soldaten uns beschießen oder uns angreifen, das ist immer wieder passiert, es war ein Leben in Angst und auch die Thailänder wollten uns ja nicht, haben uns verboten, das Lager zu verlassen.« Viele ihrer Landsleute, sagt Paw, vergäßen diese traumatischen Erfahrungen angesichts der Schwierigkeiten und Nöte, die ihr neues Leben in England bereite. »Wir dachten, wir könnten hier als Bauern arbeiten, wie früher in Burma«, fährt Paw fort. »Aber hier braucht man eine Lizenz dafür und das Leben ist so teuer, wir haben das aufgegeben.« Paw ist eine Ausnahme unter den Karen, die in Sheffield leben, sie spricht fließend Englisch, ist eine Art freischaffende Sozialarbeiterin. »80 Prozent meiner Freunde brauchen auch heute, nach sechs Jahren, noch Hilfe«, sagt sie. »Sie wissen nicht, wo sie hin sollen, dann kommen sie manchmal mitten in der Nacht zu mir.«
In der ersten Zeit sei dies anders gewesen. Die Sozialarbeiter und der Flüchtlingsrat hätten sie unterstützt: »Sie haben einen Hausarzt gesucht, Schulplätze, es gab Englisch-Anfängerkurse, auch für Erwachsene, es gab ›GB for Beginners‹-Orientierungskurse, das Arbeitsamt hatte Programme zur Integration in den Arbeitsmarkt für uns, wir alle haben eine Möbel-Erstaustattung für unsere Häuser bekommen.«
Aber nach zwölf Monaten läuft die Hilfe für Umgesiedelte aus. »Dann gibt es nur noch den Englischkurs eines freien Trägers.« Die Karen organisieren sich selbst einmal pro Woche einen »Konversationsclub«, um den Kontakt innerhalb der Community aufrechtzuerhalten. »Wir kämpfen mit den Briten um die Putzjobs. Die Ausbildung und die Sprache sind ein großes Problem, vor allem für die Älteren«, sagt Paw.
»Viele von uns leiden an survival guilt«, einem Gefühl der »Überlebensschuld«, »weil sie aus den Lagern geholt wurden, aber ihre Freunde und Verwandten dort bleiben mussten.« Sie selbst hat drei adoptierte Kinder zurücklassen müssen, sie waren damals drei, sieben und neun Jahre alt. Sie sind mit ihrer gelähmten Großmutter im Camp geblieben. Von Zeit zu Zeit rufen sie Paw an. »Es ist schrecklich«, sagt sie. Es ist das größte Problem des resettlement. Das UNHCR wird niemals alle umsiedeln können, die es nötig hätten, die Auswahl ist streng und sie ist notwendigerweise ungerecht, weil willkürlich. Doch wer es nicht trotzdem tut, kann niemanden aus den klaustrophobischen Lagern holen.
Akoi Bazzie ist es besser ergangen. Er war vermutlich jung genug, als er mit 28 nach Großbritannien kam. In den Jahren nach seiner Ankunft wurden seine beiden Söhne geboren, 2006 bekam er einen Job als Integrationshelfer, 1 900 Pfund bekommt er im Monat, er ist unter anderem im ersten Jahr für die Unterstützung neu ankommender Flüchtlinge zuständig. »Meine Arbeit ist sehr erfolgreich«, sagt er und zeigt Zeitungsartikel über ihn, die er in einer Mappe gesammelt hat. Die Probleme der Karen-Familien sind ihm bekannt. »Integration endet nie«, sagt er. »Ich fühle mich gut hier, ich habe mich zurecht gefunden. Bei anderen gibt es Schwierigkeiten, aber sie integrieren sich immer irgendwie, nur eben weniger, auf ihrem Standard.«
2003 hat das britische Innenministerium zum ersten Mal das Resettlement-Programm ausgeschrieben, es wurde mehrfach verlängert, derzeit ist offen, ob das UNHCR auch in der Zeit von 2015 bis 2018 Flüchtlinge nach Großbritannien schicken darf. Belinda Gallup hofft darauf. »Die Regierung muss das jetzt entscheiden, wir würden uns dann wieder bewerben. Es ist auf jeden Fall richtig, es zu tun.«