Ein Buch untersucht die politische Krise in Ungarn

Die Mafia nach dem Kommunismus

Ein neues Buch gibt Aufschluss über die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krise in Ungarn.

Kritische Beobachter tun sich schwer, das Regime des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán zu charakterisieren. Oft bleiben sie an der Oberfläche und sehen es als eine Art Fortsetzung des Regimes Miklós Horthys (1920 bis 1944) oder charakterisieren es als faschistoid beziehungsweise völkisch. Doch diese Zuschreibungen erfassen nicht die ganze Realität.
Einer Untersuchung des Budapester Meinungsforschungsinstituts TÁRKI zufolge sind nach dem Maßstab von »Europa 2020«, der Wachstumsstrategie der EU-Kommission, 46,6 Prozent der Bevölkerung von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen, besonders Roma, alleinerziehende Eltern und Pflichtschulabsolventen. Die radikale Kürzung des Gesundheits-, Sozial- und Unterrichtsbudgets während der vergangenen Jahre und die flat tax, die die Reichen begünstigt, tragen zu dieser katastrophalen Lage bei. Tausende Existenzen wurden ruiniert durch das am 1. Juli erlassene Gesetz über das Tabakmonopol. Die Konzessionen für »nationale Trafiks«, die Tabak weiterhin verkaufen dürfen, wurden fast ausschließlich aus dem Dunstkreis der Regierungspartei Fidesz stammenden Bewerbern gewährt. Das gleiche gilt für die Verpachtung von Land durch den Staat, wo alteingesessene Bauern benachteiligt und der Regierung nahestehende Oli­garchen bevorzugt wurden. Die Skandale mehren sich und die Zahl der Geschädigten wächst. Die Propaganda der Regierung unter dem Slogan »Ungarn leistet mehr« versucht, davon abzulenken. Trotzdem haben während der vergangenen Jahre eine halbe Million hauptsächlich junge Ungarinnen und Ungarn das Land verlassen, bei weitem mehr als in den Jahren nach der Revolution von 1956.

Ein Anfang November in Ungarn publiziertes Buch erklärt, warum Orbán bislang so erfolgreich ist. »Die ungarische Krake – ein postkommunistischer Mafia­staat«, ein Sammelband mit Beiträgen von 22 Autoren, erschien zunächst mit 5 000 Exemplaren, bereits nach einer Woche wurde die zweite Auflage gedruckt. Dem Verfasser des Vorworts, György Konrád, zufolge könne diese »neue Budapester Schule« das gesellschaftswissenschaftliche Denken wesentlich auffrischen. Wir hätten es mit der Analyse eines in der EU neuen Phänomens zu tun: der unkontrollierten persönlichen Macht eines Regierungschefs unter Beibehaltung sinnentleerter demokratischer Formen.
Bereits 2001 – während der ersten Regierung Orbán – charakterisierte der Soziologe und ehemalige Unterrichtsminister Bálint Magyar in einer bahnbrechenden Studie die von Orbán angeführte Partei Fidesz als »Die ungarische Krake – eine organisierte Überwelt«. Magyar entlarvte die unter den Rahmenbedingungen demokratischer Institutionen funktionierende Macht, die sich mit Mafiamethoden und staatlicher Hilfe von oben nach unten ausbreite, indem sie einfach alles an sich reiße und den Rechtsstaat aushebele.
Mit der parlamentarischen Zweidrittelmehrheit des Fidesz fielen seit 2010 fast alle institutionellen Schranken der Machtausübung. Danach ist auch der Staat unter die Hoheit einer einzigen Person geraten, die ihre Herrschaftstechniken, die sie vorher innerhalb des Fidesz eingesetzt hatte, um diese zum Gehorsam zu zwingen, nun auf die gesamte Gesellschaft ausdehnt. Was in der ersten Regierungsperiode des Fidesz (1998 bis 2002) begann, entfaltet sich seit 2010 in vollem Umfang. Die Konzentration von Macht und persönlichem Vermögen hat die Partei mit einem aggressiven Austausch der Elite in die Wege geleitet, dabei beseitigt sie die liberale Demokratie.

Die Autoren des Sammelbandes zeigen, dass man Ungarn nicht als eine deformierte oder defizi­täre Demokratie bezeichnen könne, sondern dass es sich um einen Mafiastaat handelt, der einzigartig in der EU ist. Das von Orbán postulierte »System nationaler Zusammenarbeit« ist nichts anderes als die gewaltsame Ausdehnung des im Fidesz realisierten Vasallensystems auf die ganze Gesellschaft. Während die klassische Mafia als Unterwelt mit den Mitteln direkter Gewalt Güter, Vermögen und wirtschaftliche Akteure unterwirft, erreicht die »ungarische Krake« dies durch Erringung der politischen Macht, die entsprechend angepasste Gesetzgebung und ihre Zusammenarbeit mit der Staatsanwaltschaft, dem Finanzamt, der Polizei und dem Geheimdienst. Mangels zu privatisierenden Staatsvermögens wird eine neue Verstaatlichung in Gang gesetzt. Unter dem ideologischen Vorwand des »nationalen Freiheitskampfes« werden Ausländer verdrängt und das außerhalb des Vasallenbereichs befindliche Privatvermögen – zum Beispiel die privaten Pensionsversicherungen – geplündert.
Die Bezeichnung »Mafiastaat« ist keine hitzköpfige Behauptung, sondern weist auf eine wesentliche Eigenschaft der neuen Machthaber hin, ihre Organisationsform. Diese unterscheidet sich von ähn­lichen Systemen, indem sie wie die Mafia aufgebaut ist, also auf gemeinsamen familiären und geschäftlichen Verbindungen. So wird auch der Nationalismus des Mafiastaats verständlich und warum diejenigen aus der Nation ausgrenzt werden, die nicht Teil dieser Familie beziehungsweise nicht als Vasallen untergeordnet sind.
Das Sammelwerk wird durch einen anregenden Essay von Bálint Magyar eingeleitet und hat vier Teile: Systemhaftigkeit und historische Individualität des Mafiastaats; Rechtsstaat in der Umklammerung des Krakenstaats; Die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Mafiastaats; Symbolisches und kulturelles Medium des Mafiastaats. Dieses Buch, das hoffentlich bald übersetzt wird, ermöglicht eine neue Sicht auf die tiefe gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Krise, die Ungarn durchmacht. Nächstes Jahr wird ein neues Parlament gewählt und es wird sich zeigen, ob Ungarn zurückfindet zum Rechtsstaat und zur liberalen Demokratie.