Die FDP und die Freiheit des Liberalismus

Die Freiheit, die sie meinen

Das Wahldebakel und die Personalprobleme der FDP sind Ausdruck der Krise des ­Liberalismus, der seine historische Mission längst erfüllt hat und einen modernen Freiheitsbegriff nicht hervorzubringen vermochte.

Wäre die FDP ein Unternehmen, müsste die Führung befürchten, sich wegen Insolvenzverschleppung vor Gericht verantworten zu müssen. Der Marktwert der Partei hat einen historischen Tiefstand erreicht. Mit dem Verlust der Parlaments­sitze sinken nicht nur die Zahlungen aus der Staatskasse, auch die Privatinvestoren werden nun knauseriger, zumal schon der Ertrag der Regierungsbeteiligung dürftig war. Das Kerngeschäft Lobbypolitik läuft schlecht und im poten­tiell einträglichen Geschäftsfeld der Bürgerrechtspolitik hat die FDP Marktanteile nicht nur an die Grünen, sondern auch an das Start-up-Unternehmen Piratenpartei verloren.
Ein Unternehmen würde in einer solchen Lage neue Manager in den Vorstand berufen. Das hat die FDP getan, auch Personal hat man bereits eingespart. Kann die Pleite so abgewendet werden? Oder ist das Produkt nicht mehr marktfähig? Um was für ein Produkt handelt es sich eigentlich?
Wenn der Sprecher von Coca-Cola behaupten würde, man verkaufe in Wahrheit kein Zuckerwasser mit Kohlensäure und Aromastoffen, müsste er die Frage beantworten, was der Konzern denn dann verkaufe. Vor einem ähnlichen Problem steht die FDP. Viele Politiker der Partei sind derzeit bemüht, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie sich nicht nur für die Reichen und den Profit der Unternehmen interessieren, also gar nicht so unsozial sind. Doch es wird nicht recht klar, was denn dann das Wesen der FDP ausmacht.
Tatsächlich spricht manches dafür, dass für deren Produkt keine ausreichende Nachfrage mehr besteht. Denn es ist bereits in jedem Haushalt vorhanden, auch in jenen, die es gar nicht haben wollen. Die Steuern für Unternehmen und Reiche sind auf dem tiefsten Stand seit Jahrzehnten, die Schaffung eines Niedriglohnsektors sorgte für Rekordprofite und die Sozialleistungen wurden erheblich gekürzt – ohne dass man die FDP dafür gebraucht hätte, denn die wichtigsten Maßnahmen wurden von der rot-grünen Bundesregierung in den Jahren 1998 bis 2005 durchgesetzt.
Aber, so ist seit dem Wahldebakel der FDP von deren Politikern und Sympathisanten vermehrt zu hören, es gehe ja vor allem um die Freiheit. Doch welche und wessen Freiheit? Abgesehen von Leitfossilien der sozialliberalen Ära wie Gerhart Baum gibt es keine FDP-Politiker, die man als Bürgerrechtler identifizieren würde. Ein sich zu seiner Homosexualität bekennender Spitzenpolitiker wäre 1980 eine Sensation gewesen, doch ist sogar die betuliche SPD der FDP hier zuvorgekommen. Zum Thema Überwachungsstaat fiel der FDP außer der Mahnung, die Amerikaner sollten jetzt mal etwas zurückstecken, nichts ein.
Tatsächlich ist das Kernproblem der Freiheitsbegriff des deutschen Liberalismus, der sich nie gänzlich von seinen großbürgerlichen Wurzeln gelöst hat. Weiterhin sorgen sich die deutschen Liberalen vornehmlich um die Freiheit der Privilegierten, anders als ihre Namensvettern in den USA. Wer dort als liberal bezeichnet wird, würde in Deutschland als Sozialdemokrat mit Sinn für Bürgerrechte gelten. Man kann die persönliche Freiheit schätzen und nicht trotzdem, sondern gerade deshalb Maßnahmen befürworten, die auch weniger Privilegierte in den Genuss dieser Freiheit kommen lassen und ihnen ein auskömmliches Leben garantieren. Liberale betonen gern den im Kapitalismus erreichten wirtschaftlichen Fortschritt. Doch den naheliegenden Gedanken, dass man den gesellschaftlichen Reichtum nutzen kann, um jedem Menschen eine materiell sorgenfreie Existenz zu garantieren, weisen sie zurück.

Abgeleitet vom lateinischen Wort für »edel, vornehm«, stand liberal zunächst für »eines frei geborenenen Mannes würdig«. In der Epoche der Aufklärung bekam der Begriff seine heutige Bedeutung, wurde in Verbindung mit Toleranz sowie dem Streben nach wirtschaftlicher und politischer Freiheit gebracht. Doch ging die alte Bedeutung nicht ganz verloren. Die Freiheit war zunächst nicht für jedermann gedacht, und für Frauen schon gar nicht.
Die Produktivkräfte von ihrer Fesselung durch absolutistische Monarchie und Adel zu befreien, war die große historische Leistung des Bürgertums. In diesem Kontext stand die liberale Wirtschaftstheorie dieser Epoche. Nicht der Monarch sollte das Wirtschaftsleben im Interesse seiner Dynastie kontrollieren, stattdessen sollte der Austausch auf dem Markt die Ökonomie stimulieren. Die Motivation für den Austausch war der persönliche Vorteil, daher musste sichergestellt werden, dass der Gewinn nicht umgehend durch hohe Steuern oder willkürliche Enteignungen von einer unproduktiven Oberschicht wieder eingezogen wird. Das war nur möglich, wenn man die Monarchie durch ein vom Bürgertum dominiertes Herrschaftssystem, die parlamentarische Demokratie, ersetzte.
Die Demokratisierung der Demokratie, von der Einführung des Wahlrechts für Arme und Frauen bis zur noch nicht abgeschlossenen Gleichstellung von Homosexuellen, wurde von den Liberalen häufiger hintertrieben als vorangetrieben. Beim Kampf um den gesellschaftlichen Fortschritt hat die Linke bereits im 19. Jahrhundert die Führung übernommen. Mit ihrem Versagen in der Bürgerrechtspolitik steht die FDP also in der Tradition des Liberalismus. Es ist eine Folge der unreflektierten Anwendung klassischer liberaler Theorien auf die Gegenwart, die zwangsläufig zu Mystifikation und Realitätsverleugnung führt.
Als unproduktiv und der finanziellen Zuwendung unwürdig werden nun die Armen ausgemacht. Deren Identifikation mit einer müßiggängerischen Aristokratie hat Guido Westerwelle zum Ausdruck gebracht, als er sagte: »Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.« Der Einkommensverteilung im Kapitalismus wird ein quasi naturgesetzlicher Charakter zugesprochen. Dem liegt eine Mystifikation des Marktes zugrunde.
»Der freie Markt ist der Ort, auf dem freie Menschen auf der Grundlage des Rechts freiwillig zum gegenseitigen Vorteil übereinkommen«, und »deshalb nichts anderes als ein Oberbegriff für die millionenfache und unter den Bedingungen der Globalisierung milliardenfache dezentrale direkte und indirekte Kooperation von einzelnen Menschen«, fabulieren die FDP-Politiker Frank Schäffler, Holger Krahmer und Norbert F. Tofall in ihrem Diskussionspapier »Liberalismus: Mehr Mut zu Recht und Freiheit«. Ich würde ihn gerne einmal sehen, diesen Markt. Im wirklichen Leben aber lässt sich unschwer ein Machtgefälle etwa zwischen Arbeitssuchenden und Unternehmern feststellen. In der Traumwelt der Schäfflers hingegen sind »wir freien Bürger« es, die »durch freies Handeln auf dem Finanzmarkt unsere Regierungen dazu zwingen, ihre Haushalte zu sanieren«. So kehrt der Besitzende als einziger Träger der Bürgerrechte zurück. Deutlicher noch wird der Mystizismus, wenn der Welt-Journalist Gerd Held den Unternehmen »eine eigene moralische Würde« zuschreibt: »In ihnen wird die Freiheit produktiv, sie erhält einen Weltbezug und damit auch eine Mäßigung.« Amen.

Liberale ignorieren beharrlich die Tatsache, dass der Markt notwendigerweise eine staatliche Veranstaltung ist. Auch die Deregulierung ist somit ein staatlicher Eingriff, da sie die Bedingungen ändert, unter denen Verträge geschlossen werden. Abgesehen von Ultralibertären und Anarcho­kapitalisten, die sich im Umfeld der FDP tummeln, aber wenig Einfluss haben, will niemand einen völligen Verzicht auf staatliches Handeln in der Wirtschaft. Wenn aber Eingriffe in das Wirtschaftsleben unerlässlich sind, stellt sich unweigerlich die Frage, in wessen Interesse sie erfolgen sollen. Was nicht nur Liberale als Umverteilung bezeichnen, kann ja auch als Rückgabe eines Teils des enteigneten Mehrwerts an die Produzenten betrachtet werden.
Der liberale Freiheitsbegriff ergänzt den Mythos, jeder habe verdient, was er im Kapitalismus verdiene, hier mit den Begriffen der Eigenverantwortung und des Wettbewerbs. »Es fehlt der Druck, sich anzustrengen und zu kämpfen, um zu überleben, wie er in Paris, London oder New York selbstverständlich ist«, schrieb Ulf Poschardt in der Welt über die angeblich zu niedrigen Mieten in Berlin. Verhungern lassen wollen die meisten Liberalen zwar niemanden, doch gilt der Konkurrenzkampf nicht nur als notwendig für den wirtschaftlichen Fortschritt, sondern als Wert an sich.
Damit sich niemand herausreden kann, wird das freie Individuum mystifiziert. »Die übermäßige Betonung vermeintlicher natürlicher oder sozialer Ursachen des Verhaltens erschwert den Individuen, ihr Leben als rationale und voll verantwortliche Akteure in die eigene Hand zu nehmen«, schließt das »Freiheitsmanifest« des Magazins Novo Argumente. Die Frage, welche Folgen etwa eine in Armut oder in einem gewalttätigen Elternhaus verbrachte Kindheit tatsächlich hat, wird gar nicht erst zugelassen, da dies die Bereitschaft mindern könnte, sich dem Verwertungsprozess zu unterwerfen.

Dass der Zwang, seine Arbeitskraft um jeden Preis zu verkaufen und schon die Lohnarbeit an sich eine Einschränkung der persönlichen Freiheit darstellt, fällt den Liberalen nicht auf. Dass es Menschen geben könnte, die kein Interesse am rat race und am sogenannten Aufstieg haben, aber trotzdem in Wohlstand leben wollen, kommt ihnen ebenfalls nicht in den Sinn. Ihre vermeint­liche Freiheit ist ein Umerziehungsprogramm, das auf Ratschläge zur Lebensführung im Stil Renate Künasts verzichtet. Der gute alte ökonomische Druck soll die Menschen zur Marktkonformität zwingen.
Auch diese Ignoranz hat ihre Wurzeln in der liberalen Ideologie. Herrschaftsbeziehungen jenseits der staatlichen Sphäre wurden und werden ignoriert oder zur Privatangelegenheit erklärt. Rainer Brüderles anzügliche Dirndl-Bemerkungen und deren vehemente Verteidigung sowie die Ablehnung der Frauenquote – bezeichnenderweise obwohl sie nach fast einhelliger Ansicht der Experten profitabel für die Unternehmen wäre – sind daher ebenso symptomatisch wie der unter Liberalen verbreitete Kampf gegen die political correctness.
In der Verteidigung von Brüderles Lümmelei und kaum verbrämten sozialdarwinistischen Aussagen wird eine Nähe zum rechtspopulistischen »Man wird ja wohl noch«-Diskurs deutlich. Doch in ihrer großen Mehrheit wollen die Liberalen nicht nach dem Vorbild der Tea Party Marktextremismus mit gesellschaftspolitischem Konservatismus verknüpfen. Ohnehin böte die Wende zum libertarianism nach US-Vorbild in der staats­fixierten deutschen Gesellschaft wohl keine Chance zur Rückkehr in den Bundestag. Fraglich wäre überdies, ob die Unternehmer für eine Partei spenden würden, die ihnen keine Konjunkturpakete und Subventionen gönnen will. Liberals aber wollen die Liberalen auch nicht werden, die Abkehr von der »Kaltherzigkeit« soll offenbar vornehmlich darin bestehen, die nächste Massenentlassung mitfühlender zu kommentieren als die Schlecker-Pleite.
Dass die FDP-Politiker in der vergangenen Legislaturperiode viel Anlass zu Empörung und Erheiterung gaben, aber selbst nach ihren eigenen Kriterien schwerlich als Leistungsträger gelten konnten, ist nicht die Ursache, sondern die Folge der Krise des Liberalismus. Jede Partei bekommt das Personal, das sie verdient. Seine historische Mission hat der Liberalismus längst erfüllt und einen Freiheitsbegriff, der jenseits der Kreise Besitzender und egozentrischer Aufstiegsorientierter Anziehungskraft entfalten könnte, haben die Liberalen nicht entwickelt.