Ugo Mattei im Gespräch über über Theorie und Praxis der »Commons«

»Die Commons sind realisierbar«

Der Jurist Ugo Mattei ist einer der prominentesten Theoretiker und Vertreter der italienischen Bewegung für die Gemeingüter. Im Gespräch erklärt er, wie die Commons von einem theoretischen Begriff zu einem Kampfinstrument werden können.

Eine häufige Kritik am Begriff der Commons, ist, dass er nicht »eindeutig« sei. Daher muss ich auch mit der Frage beginnen: Was sind ­eigentlich die Commons?
Um zu verstehen, welche politische Bedeutung dieses Thema in den vergangenen Jahren angenommen hat, vor allem in den südlichen europäischen Ländern, sollte man sich von einer Herangehensweise befreien, die auf begrifflichen Definitionen basiert. Die Commons sind keine Gegenstände, sondern politische Anerkennungsprozesse. Es gibt keine ontologische Kategorie der Commons: Etwas wird zu einem Gemeingut, wenn ein wie auch immer definierter Zusammenhang von Subjektivitäten es als solches anerkennt, einfordert und anstrebt, es als Gemeingut zu handhaben.
Das klingt sehr abstrakt. Teile der Linken – zumindest hierzulande – reagieren oft allergisch, wenn Begriffe auftauchen, für die sich keine »wissenschaftliche« Definition formulieren lässt. Auch der Begriff der »Multitude« wurde aus dieser Haltung heraus abgelehnt. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Das Potential des Begriffs der Commons, wie seinerzeit der Multitude, liegt gerade in dieser Unbestimmtheit. Warum diese ausschließlich und prinzipiell negativ besetzt wird, ist in der Tat schwer nachzuvollziehen für mich. Sie sagen, es sei alles sehr abstrakt: Aber dass sich die Commons an keine Definition festnageln lassen, ist genau das Gegenteil von Abstraktion. Es kann kein abstraktes Wissen über die Commons geben, dieses Wissen kann nur kontextuell – das heißt sehr konkret sein. Was ein Gemeingut ist, wird immer situationsbedingt und kollektiv bestimmt. Vielleicht hat man nicht so sehr mit dem Begriff Schwierigkeiten, sondern mit dessen »Übersetzung«, womit ich nicht nur die sprachliche meine, sondern die politische. Denn sie muss in einer Weise erfolgen, die mit dem politischen und ins­titutionellen Rahmen, den man vorfindet, kompatibel sein muss. Das reicht einigen schon, um mit dem erhobenen Zeigefinger zu urteilen: »Nicht revolutionär!«, »Reformistisch!«
Finden Sie die Commons denn revolutionär?
Sie haben revolutionäres Potential, aber es handelt sich um einen Begriff, der versucht, sich den juristischen Rahmenbedingungen unserer Gegenwart anzupassen und eine Dimension des Eigentums jenseits der Dichotomie von Öffentlichem und Privatem zu definieren. Das schreiben auch Toni Negri und Michael Hardt in »Commonwealth«. In ihrem Buch geht es mehr um das »Gemeinsame« als um die Commons, also um eine Vision der Überwindung von Öffentlichem und Privatem. Der Begriff Commons, an dem ich zumindest arbeite, ist dagegen einer, der mit der Existenz von Privatem und Öffentlichem irgendwie zusammenlebt. Das ist der Unterschied zwischen meinem Zugang und dem von Negri und Hardt. Die Institutionalisierung der Commons ist für mich der Schlüssel, um in die Realität zu intervenieren, um sie zu verändern.
Wie sieht dieser Prozess konkret aus?
In Italien hat sich eine Bewegung um die Commons formiert, nachdem man eine juristische Definition formuliert hatte. Ich war 2007 Mitglied einer Kommission des Justizministeriums, die eine Reform des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum Ziel hatte. Wir haben an einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen Eigentum und Gemeingütern gearbeitet. Wir haben damals die Commons mit Bedürfnissen in Zusammenhang gebracht, die von der Verfassung garantiert sind. Wir sagten: Die Commons sind in erster Linie jene Güter, die die Grundbedürfnisse der Menschen erfüllen. Dann haben wir den Begriff von der individualistischen Idee abgekoppelt, die typisch für das westliche Privatrecht ist. Stattdessen haben wir die Dimension der »künftigen Genera­tionen« eingeführt. Das war nicht nur kulturell, sondern auch politisch wichtig, denn diese Kategorie impliziert die Dimension des Kollektiven. Die Bedürfnisse, um die es bei den Commons geht, sind dann nicht mehr als die einzelner Individuen zu betrachten, sondern als Bedürfnisse einer Kollektivität. Danach ging es darum, dass die Commons die Schreibtische der Juristen verlassen und die Menschen erreichen, also darum, den Begriff zu politisieren. Gelungen ist das mit dem Referendum gegen die Privatisierung der Wasserbetriebe 2011.
Das war in der Tat eine der erfolgreichsten Mobilisierungen der vergangenen Jahre in Italien. Hat die Krise die Politisierung der Commons beschleunigt?
Ohne Zweifel war die Krise ein wichtiger Katalysator. Ich rede von der realen Krise, nicht von den komplizierten Theorien, wie die Schuldenökonomie funktioniert. In den vergangenen Jahren, in denen die Austeritätspolitik in Italien ihre zerstörerische Wirkung entfalten hat, haben viele lokale Protestbewegungen mit Single-Issue-Charakter mit den Commons einen Begriff gefunden, um ihre Erfahrungen in einen breiteren politischen Zusammenhang einzuordnen. Das war auch für uns Techniker wichtig, denn zum ersten Mal haben wir versucht, die Theorie an konkreten Erfahrungen des sozialen Widerstands zu messen. Wir haben so politische Subjektivitäten gefunden, die sich mit dem Thema der Commons identifiziert und dieses ins Zentrum eines emanzipativen Diskurses mit universellem Charakter gestellt haben. Das Teatro Valle in Rom und die No-Tav-Bewegung im Susatal sind die wichtigsten Vertreter dieser Bewegung.
Was ist an diesen rein defensiven, territorialen Kämpfen emanzipativ?
Die territoriale Logik wird in dem Moment verlassen, in dem man sich mit anderen Kämpfen vernetzt und wenn die bereits erwähnte Dimension des Kollektivs in den Mittelpunkt gestellt wird. Typischerweise stempelt eine arrogante Linke, die sich nur für die ganz große Revolution einsetzt, lokale Kämpfe als nicht emanzipativ genug oder gar als regressiv ab. Was ist denn bitteschön regressiv am Widerstand gegen ein großes infrastrukturelles Projekt, das Milliarden kosten soll, in einem Land, in dem derzeit ganze Bevölkerungsschichten in die Armut stürzen? Die soziale Kohäsion, die dieser Kampf produziert hat, war der Ausgangspunkt, um aus dieser Erfahrung ein Beispiel von kollektiver Befreiung zu machen.
Wie können die Commons denn offensiv ­werden?
Durch einen Prozess der Institutionalisierung. Es klingt paradox, aber es ist so. Dass dies alles andere als einfach ist, zeigt das, was in Italien nach dem Referendum passierte. Die Bewegung, die sich für dieses Referendum stark gemacht hatte, war nicht fähig, sich bei den jeweiligen kommunalen Institutionen durchzusetzen, mit eigenen Vorschlägen, wie man die Wasserwerke wirklich als Gemeingut verwalten kann.
Warum ist das nicht gelungen?
Meist, weil die politischen Bedingungen dafür nicht gegeben waren. Außer in Neapel. Dort hat der neue Bürgermeister hat 2011 das Amt des »Stadtrats für Gemeingüter, öffentliche Wasserversorgung und partizipative Demokratie« geschaffen, das von Alberto Lucarelli bekleidet wird, ein weiterer Mitverfasser des Referendums. Es ist, als hätte der Bürgermeister ihm, mir und einigen weiteren benicomunisti – wie wir manchmal spöttisch genannt werden – die Schlüssel der Wasserbetriebe gegeben. Wir hatten die Aufgabe, dieses kommunalen Unternehmen in ein Gemeingut zu verwandeln, zunächst juristisch. Neue ­Instrumente der Zusammenarbeit mit der Politik mussten dafür erfunden werden, in deren Mittelpunkt die Partizipation steht. Im Juli 2012 wurde dann das Wasserversorgungsunternehmen »Acqua Bene Comune Napoli« (ABC Napoli), gegründet, bei der ich derzeit im Vorstand bin. Neapel ist in meinen Augen nicht nur ein Beispiel von Synergie zwischen radikaler Theorie und pragmatischer Politik, sondern auch dafür, dass es möglich ist, bei der Übernahme eines industriellen Prozesses die kapitalistische Profitlogik zu überwinden – denn die Wasserbetriebe sind ein großes Unternehmen mit 150 Millionen Umsatz im Jahr, und nicht ein kleiner Urbangarten oder ein besetztes Haus mit Vokü und Buchladen. Wer die Idee der Commons als fortschrittsfeindlichern, bukolischen Gedanken abtut, für den sich höchstens ein paar weltfremde Ökofreaks begeistern können, hat überhaupt nichts verstanden. Die Commons sind realisierbarer Sozialismus.