Nazi-Paragraphen im deutschen Strafgesetzbuch

Freisler richtet mit

Im deutschen Strafgesetzbuch finden sich immer noch Paragraphen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Die Justizministerin von Schleswig-Holstein möchte das ändern.

Glaubt man den Medien, reagierten die deutschen Landesjustizminister kürzlich amüsiert auf einen Vorschlag ihrer Kollegin Anke Spoorendonk. Die schleswig-holsteinische Justizministerin vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW), der Partei der dänischen Minderheit in dem Bundesland, hatte angeregt, das Strafgesetzbuch von nationalsozialistischen Altlasten zu befreien. Der Vorschlag soll trotz der bescheidenen Resonanz der Justizminister in eine Bundesratsinitiative münden.

Spoorendonk geht es vor allem um Paragraph 211 des Strafgesetzbuches. Seit 1941 heißt es darin: »Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet.« Sowohl der Zeitpunkt der Gesetzesänderung als auch ihr Wortlaut lassen wenig Zweifel daran, dass es sich um eine klassische NS-Strafrechtsvorschrift handelt. »Ihre Reformbedürftigkeit steht heute außer Streit«, urteilte der Strafrechtshistoriker Gerhard Werle, derzeit Professor für juristische Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, in seiner 1989 veröffentlichten Habilitationsschrift »Justiz-Strafrecht und polizeiliche Verbrechensbekämpfung im Dritten Reich«. Die Reaktionen auf Spoorendonks Vorschlag zeigen, dass Werle zu optimistisch war. Rechtspolitiker und selbst manche Strafrechtler haben sich ebenso wie die Öffentlichkeit längst mit der Kontinuität arrangiert.
Die Grundlagen dafür hat der Bundesgerichtshof (BGH) 1956 gelegt, dessen Großer Senat für Strafsachen damals in einem Beschluss den 1941 von den Nationalsozialisten geschaffenen Mordtatbestand kurzerhand zu einer urschweizerischen und damit völlig unverdächtigen Angelegenheit erklärte: »Die Neufassung des § 211 StGB durch das Gesetz vom 4. September 1941 lehnt sich an alte Entwürfe zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch (von 1896) an.« Deutsche Strafrechtshistoriker haben zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Lesart schon deswegen erstaunlich ist, weil weder der nationalsozialistische Gesetzentwurf in seiner Begründung noch irgendein sonstiges Dokument auf die Schweizer Vorschrift, an die er sich angeblich anlehnt, auch nur hinweist. Auch fehlt dem nie Gesetz gewordenen Schweizer Artikel 52 die für den deutschen Paragraphen 211 entscheidende Formulierung »Mörder ist, wer … «. Diese Formulierung aber macht anschaulich, dass statt der Tat und ihrer Umstände der Täter und seine Gesinnung ins Visier genommen werden sollen.
Die Argumentation des BGH von 1956 griff in der gegenwärtigen Debatte Walter Rubach auf Spiegel Online auf, den die Redaktion als »erfahrenen Strafrechtler aus Augsburg« bezeichnete. Rubach, ein 1947 geborener Strafverteidiger, glänzte mit der Erkenntnis, Gesetze aus der Nazizeit seien »nicht notwendigerweise Nazigesetze«, außerdem stamme der kritisierte Mordparagraph nicht, wie oft behauptet, »von NS-Richter Freisler«, sondern von »Schmidt-Leichner, einem glänzenden Juristen, der nach dem Krieg ein ebenso glänzender Strafverteidiger wurde«.

Ein Blick des Spiegel Online-Redakteurs ins Archiv des eigenen Mediums hätte zu Tage gefördert, dass Erich Schmidt-Leichner nicht nur Glänzendes zu verantworten hatte. Als Familien- und Vormundschaftsrichter profilierte er sich auch mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen über »Rassen-Mischehen«. 1941 wurde er angeblich ohne sein Wissen zum Parteianwärter gemacht und ins Justizministerium abgeordnet, wo er nicht aneckte, sondern Karriere machte, die er nach der Niederlage des nationalsozialistischen Deutschland als Strafverteidiger und Mitbegründer der kritisch-liberalen Vereinigung »Deutsche Strafverteidiger« fortführte. Er war an der Verteidigung im Flick-Prozess, im IG-Farben-Prozess und im Wilhelmstraßen-Prozess beteiligt. Er vertrat Euthanasieärzte und mit Franz Six eine ehemalige Führungsperson aus dem Reichssicherheitshauptamt. Dass Schmidt-Leichner als Referent im Reichsjustizministerium an der Neufassung des Mordparagraphen beteiligt war, entlastet diese Vorschrift keineswegs davon, ein »Nazigesetz« zu sein, zumal Schmidt-Leichner auch die Äußerung »Mörder wird man nicht, Mörder ist man« zugeschrieben wird.
Diese Aussage entspricht der nationalsozialistischen Ideologie in der Justiz. Kurz nach seiner Ernennung zum Reichskanzler gab Adolf Hitler Anweisung, das Strafrecht im nationalsozialistischen Sinn zu verändern. Die Kommission, in der auch Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofs, Mitglied war, stützte sich dabei hauptsächlich auf die im September 1933 veröffentlichte Denkschrift des Preußischen Justizministers Hanns Kerrl über »Nationalsozialistisches Strafrecht«, an deren Entstehung Freisler ebenfalls maßgeblich beteiligt war.
Im Verlauf heftiger Diskussionen zwischen 1933 und 1941 veränderten sich die Überlegungen zur Reform der Tötungsdelikte erheblich. Freisler setzte sich zumindest mit einigen grundlegenden Forderungen durch: Die neue Vorschrift sollte »vom Volk gelesen werden« können und deshalb »so weit wie möglich verständlich sein«. Die Darstellung eines Menschen als »Mörder« galt als anschaulich und für das Volk gut begreifbar. Nach Kriegsbeginn wurden in der »Verordnung gegen Volksschädlinge« von 1939, an deren Entstehung Freisler wieder beteiligt war, ebenfalls Tätertypen charakterisiert: der »Plünderer«, der »Meintäter bei Fliegergefahr« und der »gemeingefährliche Saboteur«. 1941 reformierten die Juristen dann auch die Tötungsdelikte. Freisler kommentierte die neuen Vorschriften wenig später in einem Aufsatz. Er betonte darin die Flexibilität der Vorschriften und den Handlungsspielraum des Richters.
Die Rechtsprechung in der Bundesrepublik hat einiges versucht, den Mordparagraphen rechtstaatlich zu interpretieren – und damit in gewisser Hinsicht genau das zu tun, was auch Freisler wollte, der anstrebte, dass der Richter sich vom Gesetzgeber weitgehend unabhängig machen sollte. Dass das Auseinanderfallen von Wortlaut der Vorschrift und Anwendung durch die Gerichte der Liberalisierung und Humanisierung des Strafrechts dienen soll, ist zwar erfreulich. Doch so wird auch die klare Zäsur verhindert, die zudem Gelegenheit geboten hätte, die Verflechtung von Justiz und Nationalsozialismus in Gesetzgebung und Rechtsprechung systema­tischer zu durchleuchten, auch mit Blick beispielsweise auf die spätere Entlastung angeklagter NS-Straftäter in der Bundesrepublik, von denen kaum einer wegen Mordes verurteilt wurde.

Eine einfache Möglichkeit, den Mordparagraphen zu ändern, wurde jedenfalls im Zuge der Wiedervereinigung vergeben. Paragraph 112 des Strafgesetzbuches der DDR lautete im ersten Absatz nüchtern und in Anlehnung an das alte Reichsstrafgesetzbuch: »Wer vorsätzlich einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zehn Jahren oder mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe bestraft.« Die berüchtigten »niedrigen Beweggründe« kamen gar nicht vor. Es wäre sinnvoller gewesen, diesen Paragraphen von der DDR zu übernehmen, als Symbole der sozialistischen Straßenverkehrsordnung wie das Ampelmännchen und den Grünpfeil für Rechtsabbieger.