Die neue Verfassung in Ägyptens

Gesetze sind gut, Kontrolle ist besser

Ägypten bekommt eine neue Verfassung, aber das Militär hält die Stellung.

Die Verfassung von 2012 ist endgültig Geschichte. Die Islamisten hatten damals die Opposition, re­ligiöse Minderheiten, Frauen, Arbeiter und Künstler marginalisiert, das Resultat war ein von der Rhetorik des politischen Islam getränkter Text. Die Rechtsprechung sollte nicht mehr nur von den Gesetzestexten, sondern auch vom Verfassungstext mit seinem vagen Bezug auf das Konstrukt »islamische Sharia« ausgehen. Zudem wurde die Judikative geschwächt. Bürger-, Frauen- und Minderheitenrechte sollten nur gelten, sofern sie den »ägyptischen Sitten«, »der Religion« und dem Patriotismus nicht entgegenständen. Das Militär erhielt weitgehende Macht und Immunität. Mittels der befristeten Abschaffung der Gewaltenteilung durch Präsident Mohammed Mursi erzwangen die Muslimbrüder ein umstrittenes Referendum, nur 30 Prozent der Wahlberechtigten stimmten schließlich ab – und mehrheitlich zu.
Weniger als ein Jahr war die Verfassung daraufhin in Kraft, bis sie im Zuge der Entmachtung Mursis durch das Militär im Sommer suspendiert wurde. Die Zusammensetzung der nicht gewählten 50köpfigen konstitutionellen Kommission war dieses Mal repräsentativer, Frauen, Christen und Liberale konnten mitreden. Doch von einer säkularen Verfassung kann erneut keine Rede sein. »Sharia-Prinzipien« gelten weiterhin als »die Hauptgrundlage der Gesetzgebung«. Präsident Anwar al-Sadat hatte diese Formel 1980, in Zeiten verstärkter Kooperation mit den Islamisten, im Kampf gegen die nasseristische Linke eingeführt. Die Definitionsmacht liegt nun wieder beim Verfassungsgericht, das 1993 erläutert hatte, dass die auf das Gemeinwohl ausgerichteten »islamischen Grundprinzipien« Re­ligion, Leben, Vernunft, Ehre und Eigentum die Grundlage jeglicher Rechtssetzung und Rechtsprechung in Ägypten sein müssten. Auch wenn das Rechtssystem faktisch größtenteils säkularisiert bleibt und die neue Präambel vom geplanten Aufbau eines »zivilen« demokratischen Staats spricht, ist es also an die Sharia gebunden. Die Präambel präsentiert zudem in nati­onalistischem Duktus den historischen Gründungsmythos des ägyptischen Volkes, die Geschichte des »Heimatlandes, in dem wir leben und das in uns lebt«.

Der neue Verfassungsentwurf stärkt das Parlament in einem weiterhin semipräsidialen System. Die Rechte von Frauen werden expliziert, Gleichstellung und adäquate Teilhabe in der Arbeitswelt, aber auch in der staatlichen Verwaltung und der Politik, werden ebenso festgeschrieben wie die Notwendigkeit des Schutzes vor »allen Formen der Gewalt«. Doch müssen Frauen weiterhin die »Balance zwischen beruflichen und familiären Pflichten« halten. Von zentraler Bedeutung ist die relativ uneingeschränkte Zusicherung von Meinungs- und Gewissensfreiheit, verbunden mit dem Verbot der Diskriminierung auf religiöser, ethnischer, sozialer, geschlechtlicher und politischer Basis. Glaubensfreiheit gilt dabei nur für die im Text mehrfach erwähnten »himmlischen Religionen« Judentum, Christentum und Islam – gemeinsam mit den sunnitischen Autoritäten der Universität al-Azhar hat die koptische Kirche erfolgreich auf eine Einschränkung der Glaubensfreiheit gedrängt, wie auch auf die Ahndung der »Beleidigung« der Religion. Im Zusammenhang mit dem Islam ist immerhin das von den Muslimbrüdern 2012 eingeführte Attribut »sunnitisch« weggefallen, das die in Ägypten grassierende Diskriminierung der schiitischen Minderheit legitimierte. Insbesondere die Bahais werden jedoch weiterhin diskriminiert.

Für die große christliche Minderheit gab es nun einen großen Erfolg. Das nächste Parlament ist aufgefordert, das Recht auf den Bau und die Unterhaltung von Kirchen gesetzlich zu regeln. Ein überfälliger Schritt, denn in einem Klima staatlicher Ignoranz und islamistischer Hetze führten Auseinandersetzungen um Kirchenbauten vor dem Hintergrund von sozialen Konflikten und Clanrivalitäten immer wieder zu sektiererischer Gewalt. Begrüßt wird auch das Verbot jeglicher Folter, verbunden mit der Bindung Ägyptens an ratifizierte internationale Menschenrechtsabkommen. Erstmalig wird es nun möglich sein, auf der Basis international anerkannter Regeln juristisch gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Auffällig ist jedoch die verklausulierte Einschränkung der Pressefreiheit und vieler anderer Freiheits- und Rechtsgarantien, etwa mit der ominösen Formel »in Übereinstimmung mit dem Gesetz«. In einem autoritären System können auf dieser Grundlage etwa Zensurbestimmungen eingeführt werden, Menschenrechtler und politische Aktivisten befürchten bereits Einschränkungen durch die Hintertür.
Für den sozialen Bereich wird erstmals festgeschrieben, dass die Regierung mindestens drei Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) für das Gesundheitswesen und mindestens vier Prozent für die Schulbildung vorsehen und diese Quote schrittweise erhöhen muss. Das ist ein Novum, auch wenn etwa ein Abkommen der Afrikanischen Union bereits die Zuweisung von 15 Prozent des BSP für den Gesundheitssektor verlangt. Zudem konnten sich marktliberale Gegner einer progressiven Besteuerung nicht durchsetzen. Trotzdem äußerten »revolutionäre« Aktivisten die Befürchtung, dass sich nichts am korrupten Oligarchen- und Klientelsystem Ägyptens ändern wird. Die Verfassung verfolge keine ökonomischen oder sozialen Reformen. So findet die Tatsache, dass mehr als die Hälfte der etwa 85 Millionen Ägypter unter der Armutsgrenze leben, keinen Niederschlag in der zumindest nominell der »sozialen Gerechtigkeit« verpflichteten Verfassung.
Zudem ist mit den Worten eines ägyptischen Menschenrechtlers zu fragen: »Was nützt die beste Verfassung, wenn es keine staatlichen Strukturen gibt, die in ihrem Geiste handeln?« Die so­zialen Kämpfe und Streiks könnten beispielsweise schon bald zu »Terrorakten« erklärt werden, da sie »die Handlungsfähigkeit staatlicher Institutionen einschränken oder die nationale Wirtschaft schädigen« könnten. Ein neues »Demonstrationsgesetz« wurde bereits gegen Streikende angewendet, dient aber vor allem als Basis für Repressionen gegen islamistische und »revolutionäre« Dissidenten. Fast täglich kommt es zu Demonstrationen, immer wieder gibt es Tote durch Polizeigewalt. 14 Anhängerinnen Mursis wurden wegen der Teilnahme an einer Demonstration verurteilt – zu mehr als elf Jahren Haft unter anderem wegen »Hooliganismus« und »Zusammenrottung«. Ein 15jähriger sitzt seit mehr als drei Wochen in Untersuchungshaft, weil auf seinem Schullineal das Symbol der »Rabaa-Hand« an die Tötung von über 1 000 Demonstrantinnen und Demonstranten im August erinnerte.

In den vergangenen Wochen sind zudem Dutzende linke Oppositionelle inhaftiert worden, darunter der bekannte Anti-Mubarak- und Anti-Mursi-Aktivist Alaa Abd al-Fattah. Er kritisiert die Zuständigkeit von Militärgerichten für Zivilisten, wie sie auch der neue Entwurf vorsieht, der dem Militär noch umfassendere Macht und Immunität zubilligt als die Verfassung von 2012. Wie Omar Hamilton von der Kampagne für die Freilassung Abd al-Fattahs der Jungle World mitteilte, werde diesem die Organisation einer Demonstration gegen die neue Verfassung vorgeworfen. Mehrere Aktivistinnen, die sich als Organisatorinnen bei der Polizei gestellt hätten, seien abgewiesen worden, während Abd al-Fattah, der sogar angekündigt hatte, sich zu stellen, in seiner Wohnung unter Schlägen verhaftet wurde. Offensichtlich versucht der Sicherheitsapparat, die Aktivistinnen und Aktivisten hinter den Protesten gegen Mubarak, Militärrat und Mursi zum Schweigen zu bringen, um die »revolutionäre« Dynamik in Ägypten stillzustellen.
Der Großteil der Bevölkerung will derweil Ruhe und Ordnung und hofft auf den »starken Mann« vor und hinter den Kulissen, General Abd al-Fattah al-Sisi (Jungle World 44/13). Die Zustimmung im Verfassungsreferendum im Januar ist sicher.