20 Jahre Zapatisten-Power in Mexiko

Die lakandonische Commune

Anders als lateinamerikanische Guerilla­bewegungen vor ihnen strebten die mexikanischen Zapatistas nicht die Übernahme des Staatsapparats an. Das hat sich bewährt.

An Neujahr 1994 trat der Vertrag über die Nordamerikanische Freihandelszone (Nafta) in Kraft. In Mexiko, Kanada und den USA zelebrierten die politischen und ökonomischen Größen den Sieg des Freihandels über staatliche Regulation und Schutzzölle. Unter dem mexikanischen Präsidenten Carlos Salinas de Gortari waren zuvor Teile der Staatswirtschaft zerschlagen und die mexikanische Verfassung angepasst worden: Das Verbot des Handels mit ejidos, Land in kommunalem Besitz, wurde aufgehoben. Diese zentrale Errungenschaft der mexikanischen Revolution hatte vor allem Kleinbäuerinnen und Indigene geschützt.
Seit dem endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der meisten im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) verbundenen staatskapitalistischen »Volksdemokratien« schien der Systemwiderspruch negativ aufgehoben, eine Alternative zum kapitalistischen Weltsystem unrealistisch. Wenig beachtet in der Linken wurde ein Umbruch in der Weltwirtschaft, der für Befreiungsbewegungen noch bedeutendere Folgen hatte als der Zusammenbruch des RGW. Mit der Serienreife der Mikroelektronik änderten sich die Produktionsbedingungen: Im Postfordismus ist die kapitalistische Produktionsweise nicht mehr notwendig auf stabile, in sich homogenisierte Nationalökonomien angewiesen. Staaten zerfallen in miteinander konkurrierende Regionen. Der klassischen linken Strategie der Eroberung des Nationalstaats und des Aufbaus einer eigenständigen Nationalökonomie ist damit die materielle Grundlage entzogen. Befreiungsbewegungen haben zwei Möglichkeiten, auf diese neuen Bedingungen zu reagieren: Sie können sich für den Wettkampf der Regionen entscheiden oder von der Vorstellung Abstand nehmen, dass mit der Eroberung des Staatsapparats durch eine Avantgardeorganisation der Kapitalismus abgeschafft werden könne, und stattdessen die Selbstorganisation der Ausgebeuteten, Ausgegrenzten und Entwürdigten befördern. Die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) hat sich für den zweiten Weg entschieden – deswegen geht von ihr, bei allen praktischen Schwierigkeiten, eine Faszination für radikale Linke weltweit aus, gerade auch in Lateinamerika.

»Fragend schreiten wir voran.« In diesem zentralen Motto des EZLN drückt sich die Überwindung des klassischen Avantgarde-Prinzips aus: keine protostaatliche militaristische Bewegung, keine Unterordnung emanzipatorischer Bewegungen unter die Strategie der Machteroberung, der vermeintlichen nationalen Befreiung. Als der EZLN am 17. November 1983 von fünf Mitgliedern der zuvor zerschlagenen Stadtguerilla FLN im lakandonischen Dschungel gegründet wurde, war dies keine Selbstverständlichkeit. Die ehemaligen Militanten der FLN lernten aber zuzuhören, anstatt vermeintliche Weisheiten zu verkünden. So bildete sich ein dialogischer, gleichberechtigter Umgang mit der kleinbäuerlichen indigenen Bevölkerung heraus. Dies ist die schärfste Waffe des EZLN und eine zwingende Konsequenz aus den Niederlagen früherer Guerillabewegungen in Mexiko und anderswo.
Die lateinamerikanische Linke sah zu, wie die Sandinistas in Nicaragua sich nach ihrer Wahlniederlage 1990 selbst delegitimierten. Mit den Sandinistas scheiterte die klassische staatsfixierte marxistisch-leninistische Revolutionstheorie: Die Eroberung des Staatsapparats ist keine Garantie für den Bestand oder die Nachhaltigkeit revo­lutionärer Umwälzungen. Auch andere avantgardistisch orientierte revolutionäre Bewegungen gerieten Anfang der neunziger Jahre an die Grenzen ihrer Möglichkeiten: Die in jahrzehntelangen Kriegen zermürbten Guerillas Zentralamerikas hatten entweder bereits Friedensabkommen unterzeichnet, wie im Januar 1992 der FMLN in El Salvador, oder führten Verhandlungen darüber, wie die URNG-MAIZ in Guatemala, die 1996 ebenfalls ein Abkommen schloss, das die politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse im Wesentlichen bestehen ließ.
Einer der wenigen diplomatischen Kontakte der Guerillas war der mexikanische Staat. Hier herrschte seit Jahrzehnten die Partei der Institutionellen Revolution (PRI), die aus der auf halbem Wege steckengebliebenen mexikanischen Revolution hervorgegangen war. Ihre Nomenklatura kontrollierte über ein klientelistisches, korporativistisches soziales System nicht nur den Staat, sondern auch die Gewerkschaften, Gemeinden und Dörfer. Wenn eine oppositionelle Bewegung den Allmachtsanspruch des PRI in Frage stellte, wurde deren Führung kooptiert. Radikale Bewegungen, die sich der Kontrolle und der Bevormundung entzogen, wurden und werden mit militärischen Mitteln verfolgt und wenn möglich zerschlagen.

Und dann kamen die Zapatistas. Die städtische mexikanische wie lateinamerikanische Linke war wie elektrisiert. In der »Ersten Erklärung aus dem lakandonischen Urwald« erklärte der EZLN dem Staat Mexiko den Krieg. Sieben Provinzstädte in Chiapas wurden durch Milizionäre und Mili­zionärinnen des EZLN besetzt. Die nur leicht bewaffneten Zapatistas waren bald massiven Angriffen der mexikanischen Bundesarmee ausgesetzt. Besonders brutal war deren Vorgehen in Ocosingo, wo selbst auf Krankenwagen und Sanitäter des EZLN geschossen wurde, beeindruckend nachzulesen bei der mexikanischen Journalistin Gloria Muñoz Ramírez, die einige Jahre beim EZLN lebte, in ihrem Buch »20 + 10 – Das Feuer und das Wort«.
Doch dank der jahrelangen klandestinen Vorbereitung der zapatistischen Erhebung konnte diese nicht so einfach zerschlagen werden wie mexikanische Guerillas vor ihr: Das gleichzeitige Auftauchen in sieben Provinzstädten demons­trierte eine breite Basis in der Region, die in Mexiko für zwei Dinge bekannt war, die der Erhebung Öffentlichkeit und Sympathien verschafften: Zum einen ist Chiapas bekannt für den großen Anteil Indigener an der Bevölkerung, zum anderen als interne Peripherie, als Armutsregion. Beides hängt zusammen. Als indigena gilt, wer eine der vorspanischen Sprachen als Erstsprache erlernt hat und sich mit kleinbäuerlicher Produktion über Wasser hält. Wer den sozialen Aufstieg schafft und die vorspanische Sprache ablegt, ist kein ­indigena mehr, sondern ein mestizo, ein sogenannter Mischling. Indigena zu sein, ist eine sozial hergestellte Kategorie, die erst essentialistisch verstanden zur rassistischen wird. Abwertend wird der Begriff heute seltener benutzt als vor 1994, dank der mit der zapatistischen Erhebung demonstrierten Selbstermächtigung der ausgegrenzten Kleinbauern, die eine paternalistische Überheblichkeit hinterfragt.
Ein positiv rassistischer, romantisierender Blick auf indigenas hat durch den zapatistischen Aufstand einerseits an Legitimation verloren, sich anderseits in diffuser Form sogar noch verbreitet. Während der EZLN immer wieder betont hat, dass bereits 1993 mit der Proklamation der »Revolutionären Frauengesetze« der »Aufstand vor dem Aufstand« stattfand, wirken viele Verlautbarungen und vor allem Medienberichte über die zapatistischen Widerstandsdörfer, als seien diese widerspruchs- und konfliktfrei von edlen Indigenen bevölkert. Dass eine solche Projektion den Blick auf die soziale Realität verstellt, zeigt die bis heute anhaltende Debatte um die »Revolutionären Frauengesetze«, die vor allem notwendige Schutzmaßnahmen gegen patriarchale und sexualisierte Angriffe fordern. Dieser Erfolg will im Alltag immer wieder neu errungen werden. Auch der Kampf gegen die Kaziken, die indigenen Dorfanführer, zeigt, dass nicht alle Indigenen vor dem Aufstand gleich waren. Kaziken, die Hilfsgelder des mexikanischen Staats zuteilen, damit Kontrolle im Sinne des PRI oder anderer staatsnaher Parteien ausgeübt wird, und solche, die größere Ländereien oder Handelseinrichtungen besitzen, wurden vom EZLN aus den von ihm kontrollierten Gebieten vertrieben. Sie versuchen aber, zum Teil mit paramilitärischer Unterstützung, alte Pfründe wiederzuerlangen.

Gleichzeitig hat sich die Öffentlichkeitsarbeit des EZLN so gewandelt, dass niemand mehr ernsthaft der Vorstellung kulturell abgeschlossener, weitgehend homogener indigener Gruppen anhängen kann, der die Internetseiten des EZLN, dessen Radiosender und öffentliche Veranstaltungen und Verlautbarungen verfolgt. Die Folgen des Freihandelsabkommens und der Umbau Mexikos zum peripheren Wettbewerbsstaat spiegeln sich auch in den zapatistischen Dörfern wider. Viele der Aufständischen sind nicht nur zwei-, sondern dreisprachig, haben Migrationserfahrung und bereits in den USA gearbeitet. »Nie wieder ein Mexiko ohne uns«, dieser zapatistische Grundsatz trägt diesen Erfahrungen Rechnung. Dabei ist der Bezug auf die mexikanische Nation einerseits nationalistisch aufgeladen, andererseits aber vor allem ein antirassistischer: für ein Ende der Ausgrenzung als vermeintlich rückständige Eingeborene, für Teilhabe.
»Alles für alle« ist ebenfalls eine Forderung nach Teilhabe, nach Zugang für alle zu dem, was zum guten Leben gebraucht wird. Die Forderung drückt die radikale Opposition des EZLN zum Klientelismus des mexikanischen Staats aus: Es geht nicht um mehr oder weniger Almosen, es geht um Autonomie, um die Möglichkeit, sich ohne Bevormundung in einer selbstgewählten Form entfalten zu können. Die Aktivitäten des mexikanischen Staats wirken dem entgegen – nicht nur in Chiapas. Unter Präsident Felipe Calderón von der Partei der Nationalen Aktion (PAN), der Mexiko von Ende 2006 bis Ende 2012 regierte, haben die Konflikte um kommunalen Besitz in ganz Mexiko zugenommen, sagt die an der Universität Unam tätige Ethnologin María Fernanda Paz. In 22 Bundesstaaten hat sie 125 offene Konflikte registriert. »Dabei geht es um Kämpfe gegen Minen, Staudämme, Windräderparks, Straßenbau, Stadtentwicklungsprojekte«, sagt Paz.
In Chiapas haben sich Mitte Dezember viele Gemeinden außerhalb des zapatistischen Gebietes selbstverpflichtet, keine Minenprojekte auf ihrem Gemeindeland zuzulassen. In den fünf selbstverwalteten zapatistischen Regionen, den Caracoles, ist dies eine Selbstverständlichkeit. In den Juntas del Buen Gobierno, den Dorfräten, herrscht nicht der EZLN. Es gilt das imperative Mandat, das Rotationsprinzip garantiert, dass sich keine neue Führungsschicht herausbildet. Eine funktionierende Rätedemokratie ohne Vorherrschaft einer Partei. Nicht zufällig ließ sich Luis Hernández Navarro, mexikanischer Journalist und Kenner des EZLN, in einem Artikel dazu hinreißen, die selbstverwalteten Regionen des EZLN als »lakandonische Commune« zu bezeichnen. Es gibt dafür gute Argumente.