Jakob Kramertisch und Werner Gilits im Gespräch über das Massaker von Minenarbeitern im südafrikanischen Marikana

»Die Befehle kamen von ganz oben«

16. August 2012, unweit der Metropole Johannesburg: Während eines wilden Streiks werden 34 Minenarbeiter von der Polizei erschossen. In dem Buch »Das Massaker von Marikana« rekonstruieren südafrikanische Aktivisten und Wissenschaftler das Ereignis und ­schreiben eine Gegengeschichte von unten. Ein Gespräch mit Jakob Krameritsch und Werner Gilits, die die deutsche Ausgabe herausgeben und übersetzt haben.

Über das Massaker von Marikana wurde hierzulande kaum berichtet. Wie sind Sie auf diesen Vorfall aufmerksam geworden?
Jakob Krameritsch: Zwei Tage vor dem Massaker, am 14. August 2012, landete ich in Kapstadt, um ein Forschungssemester in Südafrika zu verbringen. Ich konnte nicht fassen, was sich hier ereignete. Die Polizei verkündete nach der blutigen Niederschlagung des Protests, es sei »nicht die Zeit für Beschuldigungen, es sei die Zeit für Trauer«. Was geschieht in diesem Land, in dem die formelle Abschaffung der Apartheid 1994 mit dem Versprechen einherging, die gewalttätige Vergangenheit hinter sich zu lassen? Ich begann, mich eingehend mit dem Massaker zu beschäftigen, nicht zuletzt, weil es Schlaglichter auf die Kontinuität und die Präsenz der Kolonialzeit und Apartheid wirft. Als ich ein Exemplar von »Marikana. A View from the Mountain« erhielt, wurde mir klar, wie wichtig dieses Buch ist, weshalb es als Basis für die erweiterte deutsche Fassung dienen sollte. Endlich wurde den Arbeitern selbst Gehör verschafft, ihre Perspektive war schließlich in den Medien vorher nicht repräsentiert worden.
Welches Bild des Massakers wurde von offizieller Seite vermittelt?
JK: Obwohl das Recht zu streiken in Südafrika verfassungsmäßig gesichert ist, wurden die Arbeiter illegalisiert und kriminalisiert. Die Medien berichteten über sie als »kriminellen, gewaltbereiten Mob«. Jane Duncan, eine Medienwissenschaftlerin aus Südafrika, hat die Berichterstattung innerhalb der ersten zehn Tage nach dem Massaker untersucht. In 146 Presseartikeln wurde gerade einmal ein Satz eines Arbeiters zitiert. Über 80 Prozent der Quellen, auf die sich die Medien stützten, kamen vom Management der Mine, der Polizei und der Regierung. In deren Darstellung wurde das Massaker zu einem scheinbar täterlosen Schicksalsschlag naturalisiert. Eine »Tragödie«, eine »Katastrophe«, der man ebenso hilflos ausgesetzt sei wie einer Überschwemmung. Ein trauriger Vorfall, der aber hinzunehmen sei wie schlechtes Wetter.
»Das Massaker von Marikana« setzt der ­Berichterstattung die Sichtweisen der Betroffenen entgegen. Wie sind die Verfasser angesichts der politischen Situation vorgegangen, um das Vertrauen der Arbeiter zu gewinnen?
JK: Direkt im Anschluss an das Massaker fand sich eine Gruppe aus Aktivisten und Wissenschaftlern der Universität Johannesburg zusammen, die sich schon lange mit Arbeiterkämpfen beschäftigten und sie unterstützten. Sie nahmen sich vor, die Sicht der Betroffenen zu recherchieren, und konnten ihnen glaubhaft die Absicht vermitteln, die offizielle Version der Geschichte zu korrigieren. Es gehe ihnen nicht darum, vermeintlich neutral und distanziert auf das Massaker zu schauen, sondern die Ereignisse aus solidarischer Perspektive darzustellen. Aus der gemeinsamen Arbeit am Buch ging schließlich die »Marikana Support Campaign« hervor, eine Gruppe, die bis heute die Arbeiter in ihrem Kampf für Verteilungsgerechtigkeit unterstützt.
In dem Buch wird dargestellt, dass der Tat eine nüchterne Planung vorausging. Das Massaker sei die größte staatliche Tötungsaktion seit dem Ende der Apartheid, heißt es.
Werner Gilits: Entgegen dem Rechtfertigungsversuch der Polizei, sie habe sich gegen gewalttätige Angriffe wehren müssen, zeigen die Autoren auf, dass dieses Massaker geplant war. Eine zentrale Rolle hat dabei Cyril Ramaphosa gespielt. Als Vizevorsitzender ist er einerseits eine der wichtigsten Personen im ANC-Establishment, andererseits gehören ihm 9,1 Prozent der Mine. Ramaphosa hat in einer E-Mail selbst die Linie vorgegeben: Die Streikenden seien als »Kriminelle« einzustufen und mit den entsprechenden Mitteln zu bekämpfen. Genau dieses Szenario wurde dann von der Polizei umgesetzt. Die Zahl der beteiligten Ordnungskräfte, es wurden ungefähr 1 000 Beamte hierher verlegt, die vom Minenmanagement infrastrukturelle Unterstützung bekamen, sowie deren Bewaffnung und die »shoot to kill«-Erlaubnis deuten darauf hin, dass die Befehle für diesen Einsatz von ganz oben, das heißt vom Innenministerium gekommen sein müssen. Dementsprechend naheliegend ist die Vermutung, dass auch Präsident Jacob Zuma in die Planung eingebunden war oder zumindest darüber unterrichtet worden ist.
Inwiefern war die National Union of Mineworkers (NUM), die größte und mächtigste Einzelgewerkschaft im Dachverband Cosatu, in das Massaker involviert?
WG: Ihre Rolle in der Beziehung zwischen den Bossen und den Arbeitern hat die NUM zu Streikbeginn eindrucksvoll selbst aufgezeigt, indem ihre Funktionäre auf die Streikenden schossen und zwei von ihnen schwer verletzten. Die NUM kämpft um ihren Einfluss bei der Kontrolle über die Arbeiter, womit sie ihren Verhandlungsstatus gegenüber den Unternehmen legitimiert. Diese Kontrolle ist ihr durch das Massaker größtenteils entglitten, sie hat seither einen starken Mitgliederschwund zu verzeichnen.
Die im Buch versammelten Interviews ­dienen nicht nur der Rekonstruktion der Ereignisse, die Arbeiter beschreiben auch gewaltsame Erfahrungen und extrem ausbeuterische Lebens- und Arbeitsbedingungen.
JK: In einem der profitabelsten Industriezweige, der Platinproduktion, gehören die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu den miserabelsten weltweit. Die meisten Arbeiter, die mit ihrem Gehalt durchschnittlich acht Leute ernähren müssen, wohnen in informellen Siedlungen ohne Strom und fließendes Wasser. Hunderte von ihnen sterben jährlich an der berüchtigten Staublunge. Große Anteile des ohnehin schon geringen Lohns gehen in die medizinische Betreuung. In Australien verdienen Beschäftigte in der Platinindustrie aufgrund anderer historischer Bedingungen im Schnitt das Zehnfache. Ein System, das den Rassismus und die damit verbundene gewalttätige Geschichte ausblendet, auf dem das geringe Lohnniveau beruht, ist rassistisch. Wir haben es hier mit unverhohlen rassistischem Kapitalismus und neokolonialer Ausbeutung zu tun. Der deutsche Chemiekonzern BASF ist einer der Hauptabnehmer des Platins aus dieser Mine.
Der Konflikt in den Minen sowie seine politische und juristische Aufarbeitung dauern an. Die Arbeiter und die Angehörigen der Ermordeten versprechen sich in dieser Hinsicht wenig von der Untersuchungskommission, der Farlam-Commission, und der offiziellen Gewerkschaft. Auf wen können sich die Arbeiter bei der Aufarbeitung des Massakers und im Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung stützen?
WG: Die selbstorganisierten Streiks des Jahres 2012 in den südafrikanischen Minen haben gezeigt, dass die Arbeiter verstanden haben: Sie müssen sich auf ihre eigene Kraft verlassen. Vergleichbare Erfahrungen haben bereits andere marginalisierte Gruppen von Menschen in Südafrika gemacht, und sie haben daraus ähnliche Konsequenzen gezogen. Südafrika ist seit Jahren das Land mit den meisten Streiks, Demonstra­tionen, Protesten und Besetzungen – Aktionen, die dazu führen, dass die verschiedenen Protagonisten näher zueinander finden. Das Massaker von Marikana hat eine bis heute andauernde Streikwelle im ganzen Land ausgelöst und zu Reaktionen der organisierten Bewohner von informellen Siedlungen geführt sowie Widerhall in der Bewegung der Arbeitslosen und der Landlosen gefunden. So hat Abahlali baseMjondolo (AbM), die größte Organisation von Barackenbewohnern, bereits am 17. August 2012 das Massaker von Marikana in eine Reihe mit denen von Sharpeville und Boipatong gestellt, die von der Apartheid-Regierung verübt worden sind. Die Organisation stellte fest: »Es ist höchste Zeit, dass alle progressiven Kräfte sich zusammentun, um diesem Blutbad Einhalt zu gebieten. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in diesem Land einen Krieg gegen die Armen gibt. (…) Über uns bricht ein Krieg herein und wir müssen so kämpfen, dass wir sicherstellen, uns niemals in unsere Feinde zu verwandeln. Wir müssen diesen Krieg in einer Weise führen, die Menschlichkeit gegen Bruta­lität stellt, und niemals so, dass die eine Brutalität gegen die andere steht.«

Jakob Krameritsch (Hg.): Das Massaker von Marikana. Widerstand und Unterdrückung von Arbeitern in Südafrika. Aus dem Englischen von Werner Gilits. Mandelbaum-Verlag, Wien 2013, 260 Seiten, 19,90 Euro

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