Die Kunst von Lorna Simpson

Die Farben der Cultural Studies

Lorna Simpson untersucht in ihren Fotografien und Installationen, wie das Angesehenwerden die Identität formt. Das Haus der Kunst in München zeigt die erste europäische Retrospektive der afroamerikanischen Künstlerin.

Lorna Simpson macht in der Kunst das, was Angela Davis im Diskurs macht. Ihr Feminismus ist schwarz, ihre Blackness hat soziales Bewusstsein, und ihre Gesellschaftskritik ist heterotopisch. Und außerdem ist alles, was sie macht, auf eine magische Weise einfach und klar. Nirgendwo sonst sieht man Kunstwerke, die so nah an der Musik sind. Wenn man sich die Zuschauer der Ausstellung ansieht, entdeckt man eine Menge seliges Grinsen – wie nach einem gelungenen Konzert. Aber man kann auch Geschichten zu jeder Werkgruppe erzählen. Oder eben einen Diskurs entwickeln.
Im Münchner Haus der Kunst gibt es nun die erste europäische Retrospektive ihrer Arbeit. Sie umspannt 30 Jahre ihres Schaffens und zeigt, wie sich ihre Motive und Techniken wandeln und aufeinander Bezug nehmen. Die Kon­tinuität ihres Werks zu verstehen, fällt in dieser Ausstellung leicht, weil sie klar gegliedert ist und eine kluge Auswahl bietet. So beginnt der Eintritt in die Welt der afroamerikanischen Künstlerin mit der Video-Installation »Momentum«, in der Tänzerinnen und Tänzer mit mächtigen Afro-Perücken und goldgeschminkter Haut einander begegnen. Selten erkennt man so deutlich, wie sehr Tanz Sprache ist. Oder Sprache Tanz, wie man es nimmt. Und überhaupt: Gold. Die Farbe – ist es eine Farbe? – spielt bei Lorna Simpson immer wieder eine Rolle, zum Beispiel in der Serie »Gold Head«, wo kräftige Pinselstriche mit Goldfarbe mächtige Frisuren bilden. Auch da geht es um ein Moment, ein Dazwischen der Wahrnehmung, um einen Raum, in dem man schwebt, weil die Frage »Was ist das?« immer zwei Antworten zulässt – mindestens.
Von dort aus geht es zu den »Frühen Werken«. Lorna Simpson, Jahrgang 1960, wuchs in Brooklyn auf, studierte an der School of Visual Arts und begann ihre Arbeit als Dokumentarfotografin. Ihr Interesse gilt dem Auftreten der Afroamerikaner in der Öffentlichkeit. Sie zeigt, wie die Öffentlichkeit das Bild der Afroamerikaner und vor allem der afroamerikanischen Frauen in den USA formt und die Ethnie erfunden wird. Zunehmend verbindet sie ihre dokumentarischen Bilder mit künstlerischen Inszenierungen. Die großformatigen Fotografien kombiniert sie mit Texten, die nicht einfach Titel, Bildlegenden oder Erklärungen sind. Wort-Poetik und Bild-Poetik begegnen sich, etwa in der Serie »The Park«, und erzeugen einen Augenblick voller Widersprüche, Möglichkeiten und Übergänge. Aber auch voller Bedrohung. »Necklines« aus dem Jahr 1989 zeigt zweimal dieselbe Aufnahme einer schwarzen Frau; der Text reiht Worte voller Gewalt und Bosheit aneinander, die, formte man sie zu einer Geschichte, das Drama eines Lynchmords ergäben. In einer anderen Serie kombiniert Simpson Fotografien aus den fünfziger Jahren, found footage gewissermaßen, auf denen afroamerikanische Frauen posieren, mit eigenen Nachinszenierungen, einem Reenactment. Wenn Cindy Shermans »Stills« auf eine Traumfabrikation hinweisen, in der so ziemlich alles möglich ist, bleiben die Szenarien, in die Simpson schlüpft, stärker der Realität verhaftet. Wie mochte es sich anfühlen, in den fünfziger Jahren eine schwarze Frau in New York zu sein? Und wovon ließ sich träumen, wie gefangen war man in den Bildern? Eine kühle Melancholie weht aus diesen Bildern einer vergangenen Intimität.
Die Installationen von Simpson beschäftigen sich oftmals mit dem Thema Zeit. Man mag es nicht fassen, wie einfach das geht, wenn man sich entschließt, von den »Frühen Werken« nach links zum Treppenhaus zu gehen, wo das Endlos-Video »Cloudscape« aus dem Jahr 2004 läuft. Ein Mann (genauer gesagt handelt es sich um den befreundeten Musiker und Künstler Terry Adkins, der übrigens ganz wundersame Musik-Raum-Maschinen-Begegnungen erzeugt, aber das nur nebenbei) steht in einem leeren Raum und pfeift ein Lied. Es handelt sich um ein Kirchenlied, wie der Begleittext mitteilt. Was ihn und sein Lied verändert, sind ein Scheinwerfer und eine Nebelschwade. Und dann läuft alles auch wieder rückwärts. Und dann wiederholt es sich. Wenn man eine Weile zusieht, verändert sich die Wahrnehmung der Zeit.
Das nämlich ist das Glück des Heterotopischen, das man ja in der Kunst schon einmal ausprobieren kann. Dass man aus diesen Gefängnissen von Raum und Zeit und Rolle und Gesellschaft entkommt in eine Schwebe. Diesen Zustand beschreibt, am anderen Ende des Ausstellungsgangs, die neueste Video-Arbeit von Lorna Simpson, »Chess«, die aus verschiedenen Foto-Arbeiten entwickelt wurde. Auf zwei Projektionsflächen sieht man Menschen Schach spielen, einmal sind es Frauen (eigentlich ist es eine Frau, die fünfmal auf einem offensichtlich fünfseitigen Spielbrett gegen sich selber spielt), und einmal sind es Männer (genau gesagt ist es wieder fünfmal ein Mann, der ebenso wie die Frau von Lorna Simpson selbst gespielt wird). Auf der dritten Projektionsfläche spielt der Musiker Jason Moran fünfmal Piano – ein Musiker zwischen Jazz und Klassik, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die größte Klarheit zu erreichen, das passt also. Dass dieser Fünffach-Spiegeltrick auch noch eine Spur in die Kunstgeschichte legt, sei nur am Rande erwähnt. Wesentlicher scheint, dass man hier der Zeit zusehen kann. Nicht, wie sie vergeht. Sondern vielleicht, wie sie entsteht.
Simpson hat in den verschiedensten Medien und Techniken gearbeitet, aber die Verbindung von dokumentarischem und poetischem Bild, der Augenblick des größten Kontrastes, der zugleich der einer Verschmelzung ist, bleibt ein Leitmotiv. In »Corridor« sitzen sich zwei weibliche Charaktere gegenüber, eine Dienerin aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und eine Hausbesitzerin aus den sechziger Jahren. Beide Frauen werden von derselben Darstellerin, der kenianischen Künstlerin Wangechi Mutu, verkörpert, so wie in der großen Video-Installation »Chess«, dem Herzstück der Münchner Ausstellung, wo männliche und weibliche, alte und junge Menschen Schach spielen.
Die beiden weiteren Räume umfassen Werkgruppen zu »Filzarbeiten« und zum »Archivieren/Sammeln«. Simpsons Filzarbeiten beziehen sich nicht direkt auf die Werke von Joseph Beuys, sind aber von einer Begegnung mit seiner Arbeit mit dem Material inspiriert. Bei ­Simpson aber wird Filz zu einer Textur für die Fotografie, und auf diesem Material, das zugleich »vergänglich« und in gewisser Weise auch immer einzigartig ist, beginnen die Aufnahmen auf eine ganz neue Art lebendig zu werden und aus dem üblichen Kontext, Papierdruck, Illustration, Film etc. auszubrechen. Was könnte man auf diesem Material besser darstellen als das Schärfen und das Vagewerden von Bildern der Kontrolle und Überwachung? Wer oder was jemand ist, das zeigt sich in Simpsons sezierender Arbeit mit den visuellen Genres und Konventionen, wird durch das Bild wesentlich mitbestimmt, das derjenige machen kann oder will, der die Macht dazu und das Interesse daran hat. Damit arbeitet sich Simpson ins Zentrum der Cultural Studies vor, auf eben die klare und einfache Weise, wie es auch ihre Freunde aus Musik und Kunst tun (denn ganz nebenbei zeigt die Schau in München auch, wie gerne und fruchtbar Simpson mit anderen Künstlern zusammenarbeitet, und schon damit unterläuft sie ein paar Gesetze von Macht und Eitelkeit im Kunstbetrieb), nämlich zu ­einem Wissen darum, wie sehr das Angesehenwerden Teil der eigenen »Identität« ist, und wie umgekehrt jede Befreiung mit dem eigenen Bild beginnt. Und damit wäre man auch wieder bei Angela Davis.

Lorna Simpson. Haus der Kunst, München. Bis 2. Februar