Die Eskalation auf dem Maidan und die Verhandlungen mit der Regierung

Sieg nach Punkten

In der Ukraine geht es nicht um ein Assoziierungsabkommen mit der EU, sondern um den Sturz eines autoritären Systems. Die Regierung ist bereits zurückgetreten. Wie lange kann Präsident Viktor Janukowitsch dem Druck der Straße noch standhalten?

Ein K.O.-Sieg sieht anders aus. Vitali Klitschko erklärte am Dienstagmittag: »Der Rücktritt ist kein Sieg, es ist ein Schritt zum Sieg.« Zuvor war am Morgen die ukrainische Regierung von Ministerpräsident Mykola Asarow zurückgetreten, um einer Misstrauensabstimmung im Parlament zuvorzukommen. Am frühen Morgen hatte Präsident Viktor Janukowitsch bereits Zugeständnisse an die Opposition verkündet. Die drastischen Verschärfungen des Demonstrationsrechts vom 16. Januar wurden daraufhin vom Parlament in einer Sondersitzung zurückgenommen. 361 Abgeordnete stimmten für die Rücknahme der Gesetze, 51 dagegen. Zudem wurde eine Amnestie für festgenommene Regierungsgegner in Aussicht gestellt.
Auch wenn die Demonstranten den Rücktritt Janukowitschs und Neuwahlen fordern, so ist die Rücknahme der Anti-Protest-Gesetze bereits ein wichtiger Erfolg der Opposition. Die Gesetze waren schließlich das auslösende Moment für die Eskalation. Mit der Unterschrift von Viktor Janukowitsch unter diese, so kritisierten viele, sei die Ukraine am 17. Januar zu einer Diktatur geworden. Zwei Monate lang hatte die Regierung zuvor versucht, die Proteste mit Gewalt einzudämmen, und darauf spekuliert, die Demonstrationen würden sich bei den Minusgraden von selbst erledigen. Als sich diese Hoffnung nicht erfüllte, wurden die Gesetze zur Unterdrückung der Opposition erlassen, welche grundlegende Bürgerrechte und die Meinungsfreiheit massiv einschränkten.

In der Nacht zum 20. Januar folgte die Eskalation. Gewalttätige Demonstranten, darunter viele aus der extremen Rechten, lieferten sich heftige Straßenschlachten mit der Polizei. In den Straßen Kiews, insbesondere in der Gruschewski-Straße, welche die Frontlinie zwischen Demons­tranten und Polizeikräften darstellte, gingen die Sondereinheiten der Berkut dazu über, Gebrauch von ihren Schusswaffen zu machen. Am darauffolgenden Tag kamen mindestens vier Demons­tranten ums Leben. Regierungskritiker, Protestierende und Journalisten sahen sich vermehrt Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. Manchmal klingelte bei ihnen das Telefon und ihnen wurde nahegelegt, ihre Aktivitäten einzustellen, da man sonst »nicht für ihre Sicherheit garantieren kann«. Dutzende Personen sind verschwunden, vermutlich verschleppt.
Nach einer kurzen Waffenruhe stiegen am Freitagabend wieder Rauchschwaden über den Kiewer Barrikaden auf, nachdem ein Treffen der Regierung mit den wichtigsten Oppositionsführern keine Ergebnisse gebracht hatte. Freitagabend wurde in Kiew das Landwirtschaftsministerium, in der Nacht zum Montag das Justizministerium besetzt. Die Regierung hat keine Kontrolle mehr über weite Teile Kiews und der Westukraine. Die Demonstranten hielten eine beachtliche Zahl von Regierungsgebäuden besetzt. Dass sie diese wieder verlassen, war eine der Hauptforderungen Janukowitschs bei den Verhandlungen mit der Opposition. Klitschko forderte die Demonstranten daraufhin auf, das Justizministerium zu räumen. Zu diesem Zeitpunkt wurde bezweifelt, dass die Oppositionsführer noch Einfluss auf die Proteste haben. Die Demonstranten verließen das Ministerium am Dienstag. Damit bewiesen die Oppositionsparteien, dass sie die Situation bis zu einem gewissen Grad doch noch unter Kontrolle haben.
Doch auch in anderen Städten, auch im Osten des Landes, der russischsprachigen Hochburg Janukowitschs, kam es zu Protesten. Sie breiteten sich über die gesamte Ukraine aus. Das war bemerkenswert, weil das Land erstens als gespalten gilt, in einen eher Richtung Westen und einen eher nach Russland orientierten Teil, und weil die Proteste zweitens vom russischsprachigen Staatsfernsehen durchgängig als eine faschistische und durch den Westen finanzierte Okkupation der souveränen Ukraine dargestellt wurden, die den Ukrainern ihren perversen homosexuellen Lebensstil aufzwingen solle – so oder so ähnlich lauteten die Ausführungen der staatlichen Propaganda.

Die Anhänger von Klitschkos Ukrainischer demokratischer Allianz für Reformen (UDAR) und der Vaterlandspartei der inhaftierten ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko agieren weitgehend friedlich. Die Rechtsextremisten, die einen wichtigen Teil der gewaltbereiten Demonstranten stellen, stehen der Swoboda zwar ideologisch nahe, haben aber meist nichts direkt mit der Partei zu tun. Die beiden größten Oppositionsparteien haben sich bislang nicht von der rechtsextremen Swoboda distanziert, möglicherweise wird man im Falle einer Regierungsbildung auf sie angewiesen sein. Für Janukowitsch war die Präsenz der Neonazis beim Protest eine willkommene Gelegenheit, die Opposition in Gänze zu diskreditieren. Geholfen hat ihm dies nicht.
Er ahnte wohl bereits am Wochenende, dass sich seine Zeit dem Ende nähert. So schlug er vor, einige Gesetzesänderungen zurückzunehmen, und bot Arsenij Jazenjuk, dem ehemaligen Außenminister und derzeitigen Verhandlungsführer der Vaterlandspartei, den Posten des Ministerpräsidenten an. Klitschko sollte sein Stellvertreter werden. Die Opposition lehnte dieses taktische Angebot ab. Auf der Straße ist man sich einig: Die Demonstranten wollen keinen faulen Kompromiss, sie wollen Janukowitschs Rücktritt. Angesichts der weitreichenden Machtbefugnisse, die der Präsident in der Ukraine hat, musste eine Umbildung der Regierung – ebenso wie der nun erfolgte Rücktritt derselben – als bl0ßes Bauernopfer interpretiert werden.
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) hatte der Führung in Kiew Ende voriger Woche mit Sanktionen gedroht, sollte diese die Aufstände gewaltsam niederschlagen. Falls die Regierung kein Interesse an einer konstruktiven und friedlichen Lösung zeige, könne man »seitens der EU die Sperrung von Bankkonten und Reisebeschränkungen für die ukrainische Führung nicht ausschließen«, sagte Schulz. Auf dem zentralen Platz, dem Maidan, fühlen sich jedoch viele Menschen von der EU im Stich gelassen. Putin bot der Ukraine billiges Gas und einen bitter notwendigen Kredit in Höhe von 15 Milliarden Euro – und das sofort. Das Assoziierungsabkommen mit der EU wäre eine Wette auf die Zukunft gewesen. Die EU hatte der Ukraine kein Angebot gemacht, um die wirtschaftliche Misere zu bekämpfen oder den Wegfall russischer Absatzmärkte zu kompensieren. Viktor Janukowitsch hat sich aus wirtschaftlichen Sachzwängen zu Wladimir Putins Marionette degradieren lassen. An dessen Handschrift erinnerten auch die nun zurückgenommenen Anti-Protest-Gesetze.
Jede kritische Meinungsäußerung sollte mit ihnen zu einem potentiellen Straftatbestand werden, während der Polizei und den Regierenden weitestgehend Immunität eingeräumt wurde. Bereits bei der Verabschiedung der Gesetze hielt man sich im Parlament nicht mehr an offizielle Verfahren. Viele Parlamentarier waren nicht anwesend und über die Anti-Protest-Gesetze wurden ohne vorherige Beratung abgestimmt und ohne dass die Abgeordneten auch nur die Zeit gehabt hätten, die Dokumente zu lesen. Die Regierung hatte sich nicht einmal mehr darum geschert, einen demokratischen Eindruck zu erwecken. Die neue Rechtslage sah vor, dass eine Blockade von Regierungsgebäuden mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden kann. Vermummung und unautorisiertes Zelten konnten mit einer Gefängnisstrafe bis zu 15 Tagen bestraft werden. Die Definition extremistischer Aktivitäten wurde stark ausgeweitet, wodurch Demons­tranten kriminalisiert und NGOs und Kirchen davon abgehalten werden sollten, sich an den Protesten zu beteiligen. Wer vermeintlich falsche Informationen über Polizisten, Richter oder ihre Familienangehörigen verbreitet, konnte mit bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. Der Willkür war Tür und Tor geöffnet.

Die Rücknahme dieser Gesetze ist vermutlich ein wichtigeres Ergebnis des Aufstands als der Rücktritt der Regierung. Ob tatsächlich sämtliche Gesetze von 16. Januar zurückgenommen wurden, ließ sich bei Redaktionsschluss nicht mit Sicherheit sagen. Immerhin gab es nicht nur neue Gesetze, die die sich direkt gegen Demonstrationen richteten. Geplant war außerdem eine staatliche Zensur des Internet. Auch hatte Janukowitsch bestimmt, dass Gerichtsverfahren neuerdings gegen Personen durchgeführt werden können, die gar nicht anwesend sind, und dass NGOs, die Spenden aus dem Ausland erhalten, sich registrieren lassen müssen. Der Schriftsteller Jurij Andruchowitsch schrieb in einem offenen Brief: »Wenn man diese Gesetze akzeptiert, muss man davon ausgehen, dass in der Ukraine alles verboten ist, was von den Machthabern nicht erlaubt wird. Und erlaubt ist nur eines – zu gehorchen.«
Der Aufstand war also, unabhängig von den Motiven der verschiedenen Oppositionskräfte, auf jeden Fall einer für die Demokratie – und zumindest indirekt einer gegen Putin. Was daraus nun folgen wird, werden die nächsten Tage zeigen. Auch ob die Demonstranten sich mit den Zugeständnissen zufrieden geben werden und der Protest langsam abflaut oder ob die Opposition doch noch über weitere Druckmittel verfügt, Janukowitsch aus dem Amt zu jagen. Selbst wenn dies nicht sofort gelingt, dürften seine Tage als Präsident gezählt sein.