Der Super Bowl XLVIII

Straight out of Stanford

Vor dem Super Bowl XLVIII steht ein Gewinner schon fest: Cornerback Richard Sherman hat mit einem Wutausbruch und fundierten Texten seinen Marktwert verzigfacht.

Peyton Manning von den Denver Broncos – einer der besten Quarterbacks aller Zeiten, der allerdings in den Playoffs der vergangenen Jahre oft glücklos spielte und mit seinen Teams meistens vor dem großen Finale ausschied – setzt große Hoffnungen ins finale Match gegen die Seattle Sea­hawks. Durch einen Sieg könnte er endlich mit seinem jüngeren Bruder Eli gleichziehen und seinen zweiten Super Bowl gewinnen.
Das Duell der beiden verwandten Superstars würde normalerweise die Schlagzeilen vor dem größten Sportereignis der USA beherrschen, wenn nicht ganz unvermutet Richard Sherman, Cornerback der Seattle Seahawks, zum großen, die Familiengeschichte der Mannings verdrängenden Thema geworden wäre. Nach dem NFC-Conference-Finale gegen die San Francisco 49ers und dem Einzug in den Super Bowl hatte der junge Spieler ein Interview direkt nach dem Spiel für eine wütende Rede genutzt. »Ich bin der beste Cornerback dieser Sportart. Und das bekommt ihr eben, wenn ihr mir einen jämmerlichen Receiver wie Michael Crabtree entgegensetzt«, brüllte er in Anspielung auf den unerwarteten Sieg. »Rede nie wieder über mich«, forderte er anschließend direkt in die Kamera. Interviewerin Erin Andrews wirkte schockiert und fragte umgehend nach, wer denn eigentlich nicht mehr über ihn reden solle. »Crabtree!« antwortete Sherman und wütete weiter in Richtung seines Gegners: »Mach du nicht den Mund auf, um über die Besten zu reden, sonst mach ich ihn ganz schnell wieder für dich zu!«
Das Video von Shermans Wutausbruch avancierte sofort zum wichtigen Thema auf Twitter und Facebook. Die Geschichte hinter dem Zorn des Cornerback kannten allerdings nur ausgewiesene Football-Fans: In der Woche vor dem Spiel hatte Michael Crabtree auf die Frage einer Zeitung, ob Sherman einer der besten Cornerbacks der Liga sei, eindeutig mit »Nein« geantwortet. Das allein hätte den Seahawks-Profi allerdings wohl kaum so wütend gemacht, den Gegner kleinzureden gehört vor wichtigen Matches schließlich dazu – sein Verhalten hatte vielmehr mit einer kurzen Begegnung zwischen den beiden Spielern wenige Sekunden vor dem Liveinterview zu tun.
Kurz vor Ende des Spiels hatte Sherman einen gegnerischen Pass, der eigentlich für ­Crabtree bestimmt gewesen war, abwehren und damit den Sieg für Seattle erringen können. Die Seattle-Spieler feierten den Einzug ins Finale zunächst, dann sprintete Sherman dem vom Platz gehenden Crabtree hinterher, streckte seine Hand aus und sagte »Gutes Spiel«, woraufhin Crabtree ihm mit der Hand an den Helm fasste und ihn einfach wegschob (der genaue Wortlaut ist bekannt, weil die Spieler beider Teams für das Halbfinale mit Mikrophonen ausgestattet waren, damit besondere Momente für den of­fiziellen NFL-Saisonrückblick festgehalten werden konnten). Für den unterlegenen Wide Receiver dürften diese Worte im Augenblick der Niederlage wie Hohn gewirkt haben. Die NFL-Offiziellen werteten die Szenen später jedenfalls mit einer Strafe von 7 250 Dollar für Sherman wegen Verhöhnung des Gegners – ob mit der für NFL-Verhältnisse am unteren möglichen Level angesiedelte Geldstrafe aber das verbotene Feiern nach dem gelungenen Spielzug oder der Versuch Shermans, Crabtree die Hand zu reichen, sanktioniert wurde, ist nicht bekannt.
Die Reaktionen der Fans auf Shermans Ausbruch fielen unterschiedlich aus: Viele empfanden ihn eher als Meinungsäußerung denn als aggressive Drohung, andere hielten sein Verhalten dagegen für unsportlich und machten abschätzige Bemerkungen über seine Herkunft. Richard Sherman wuchs nämlich im kalifornischen Compton auf, einem Vorort von Los Angeles mit fast 100 000 Einwohnern, der weltweit bekannt durch das 1988 erschienene Album »Straight outta Compton« der Gangster-Rapper von N.W.A geworden war. Die Stadt hat eine der höchsten Kriminalitätsraten in den USA und ist geprägt von Gangs wie den Bloods und den Crips.
Als Kind habe er die Narbe einer Schusswunde am Oberkörper seines Vaters faszinierend gefunden, erzählte Sherman später in ­einem Interview, ohne darauf einzugehen, woher sie stammte. Seine Eltern taten jedenfalls alles, um nicht nur die eigenen Kinder von Gangs und Kriminalität fernzuhalten, indem sie ein offenes Haus pflegten, in dem gespielt und getobt werden konnte. »Manche Farben durfte man keinesfalls tragen«, sagte Sherman später in Anspielung auf die von Bloods und Crips als Erkennungszeichen eingesetzten Kleidungsstücke in Rot und Blau.
Die Shermans legten sehr viel Wert auf Bildung. Mit Erfolg, denn Richard schaffte es aus der Dominguez High School in Compton an die renommierte Stanford University, wo er zunächst als Wide Receiver, später als Cornerback Football spielte sowie einen Abschluss in Kommunikationswissenschaften machte, bevor er 2010 begann, den entsprechenden Masterstudiengang zu absolvieren.
Gleichzeitig galt Sherman schon im dritten Jahr seiner NFL-Karriere als einer der besten Cornerbacks der Liga. Und ist durch klare, nicht immer gefällige Äußerungen schon häufiger aufgefallen. Im März 2013 sagte er dem Fernsehkommentator Skip Bayless während eines Interviews live in dessen Sendung auf ESPN, was er von ihm und seinen »unhaltbaren Analysen« halte, die »schon ein Blick in die Statistiken als falsch entlarven« würde, während sich Bayless’ Co-Moderator Stephen A. Smith das Lachen über die minutenlange Rede verkneifen musste.
Auf Mmqb.si.com, der Rubrik »Monday Morning Quarterback« des Internetangebots von Sports Illustrated, hat der Kommunikationswissenschaftler Sherman zudem eine eigene Kolumne unter dem Titel »In this Corner«, in der er regelmäßig Artikel über Football als Spiel und Geschäft veröffentlicht. Besonders viel Beachtung unter den Funktionären der National Football League fand sein Text »If I ran the league«, in dem er schilderte, welche Änderungen er einführen würde, wenn er der Commis­sioner der NFL wäre.
Für seine Tirade vor laufender Kamera nach dem Spiel gegen San Francisco hat sich Sherman mittlerweile entschuldigt, weil ihm »sehr leid tat«, die gesamte Aufmerksamkeit von Medien und Fans auf sich gezogen zu haben, wodurch die »großartige Leistung« seiner Teamkollegen zu wenig gewürdigt worden sei. Dass er danach als thug – das Wort kann man wohl am besten mit »Gangsterschläger« übersetzen – bezeichnet wurde, will er nicht auf sich sitzen lassen: »Ich kenne ein paar richtige thugs, mit denen habe ich nichts gemeinsam. Ich habe immer gegen solche Bezeichnungen gekämpft, mein ganzes Leben lang, denn ich wurde oft thug genannt, weil ich aus dem Ort komme, aus dem ich eben komme.« Denn, so Sherman weiter, aufgrund der Herkunft auf den Menschen zu schließen, sei klarer Ras­sismus.
Aber seine Tirade hat dem Spieler auch Vorteile gebracht: Shermans Agent sagte, dass er seinen Marktwert für Werbeverträge dadurch von 500 000 Dollar auf fünf Millionen Dollar verzehnfacht habe. Der plötzliche Reichtum dürfte nicht ungelegen kommen, denn der Cornerback spielt immer noch zu den Konditionen seines ersten, nach der NFL Draft vor drei Jahren unterschriebenen Vertrags. Und verdient damit als mutmaßlich bester Cornerback der Liga pro Saison nur rund ein Zwanzigstel dessen, was die Topspieler auf der Position bei anderen Mannschaften verdienen.
Gegen die Geschichte von Richard Sherman sind die anderen Ereignisse des diesjährigen Superbowls ziemlich unspektakulär. Ein paar Tage vor dem großen Finale am 2. Februar waren lediglich die bereits angesprochene Familiengeschichte der Mannings und das Wetter nennenswerte Themen. Denn der Super Bowl wird dieses Jahr in New York gespielt, und zwar in einem Stadion ohne Dach. Vor ein paar Wochen gab es dort heftige Schneestürme, doch mit einem Blizzard muss nicht gerechnet werden. Es soll lediglich recht kalt und windig werden und vielleicht ein wenig schneien.
Womit man sich wieder Richard Sherman und seinen großen Hoffnungen zuwenden kann. Sein Team gilt zwar als Underdog, aber das Defensive Backfield der Seahawks, das sich den aparten Spitznamen »Legion of Boom« (Boom steht in der Comicsprache unter anderem für Explosion) erarbeiten konnte, gilt als das Franchise mit der besten Passverteidigung der NFL.