Die Ukraine, Russland und die EU

Zwischen Ost und West

Die politische Entwicklung in der Ukraine ist für Russland geostrategisch entscheidend. An ihr könnte die Realisierung der von Präsident Wladimir Putin angestrebten »Eurasischen Union« scheitern.

Die Sterne auf blauem Stoff flattern aufgeregt über brennenden Barrikaden. Wer die Bilder von dem Maidan, dem zentralen Platz in Kiew sieht, muss sich die Augen reiben. Dass die Flagge der Europäischen Union als Symbol des Aufbruchs dient, mutet in Berlin oder Paris merkwürdig an. Dort verbindet man mit Brüssel alles Mögliche, aber sicherlich keine aufrührerische Initiative.
Von Moskau aus betrachtet sieht die Lage anders aus. Hier beschwört die russische Regierung eine imperiale Bedrohung, deren nächstes Opfer die Ukraine sein könnte. Seit geraumer Zeit ist der Westen immer weiter in den Osten vorgerückt, mit EU-Erweiterung und neuen Nato-Staaten, die direkt an Russland grenzen.
Als strategische Reaktion auf diese Entwicklung gründete der russische Präsident Wladimir Putin bereits 2005 die »Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft«, der neben Russland noch Weißrussland und Kasachstan angehören und die in eine Eurasische Union münden soll. Putin hatte das Projekt am 3. Oktober 2011 in einem ausführlichen Artikel in der Iswestija vorgestellt. Er betonte darin, dass die Eurasische Union keine »Wiederbelebung der Sowjetunion in irgendeiner Form« bedeute. »Wir schlagen eine mächtige supranationale Vereinigung vor, die in der Lage ist, zu einem Pol der modernen Welt zu werden und als wirkungsvolle Brücke zwischen Europa und der dynamischen asiatisch-pazifischen Region zu dienen.« Für Russland bedeute die Eurasische Union eine Stärkung seiner Stellung in der Welt.
Fast zur selben Zeit initiierte die EU auf polnische Initiative hin die »Östliche Partnerschaft«, ein Programm, das sechs ehemals sowjetische Länder mit der EU assoziieren soll, darunter die Republik Moldau, Georgien und die Ukraine. Mit dem Projekt trat die EU direkt in einen geopolitischen Konkurrenzkampf mit Russland, denn die Assoziation ist exklusiv: Die Länder der »Östlichen Partnerschaft« können nicht zugleich der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft angehören, da die Bedingungen beider Verträge nicht kompatibel miteinander sind. »Wenn die Ukraine einen europäischen Vektor wählen wird, so wird es ihr natürlich schwerer fallen, die Lösungen im Rahmen des einheitlichen Wirtschaftsraumes und der Zollunion zu finden, an der Russland, Kasachstan und Weißrussland teilnehmen, weil dies bereits eine andere Vereinigung ist«, erklärte der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew. Die Ukraine könne nicht auf zwei Stühlen sitzen. Sie müsse eine Wahl treffen, fügte er hinzu.
Ohne die Ukraine würde die Eurasische Union allerdings wenig Sinn ergeben. Die von Putin erhoffte Verbindung zwischen Westeuropa und Asien käme dann kaum zustande. Tritt die Ukraine der »Östlichen Partnerschaft« bei, wäre dies außerdem ein Signal an andere osteuropäische Länder, inklusive Weißrussland, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen. Mit allen Mitteln versucht die russische Regierung daher, diese Entwicklung zu verhindern. Sie stellte dem nahezu bankrotten Land Kredite und Gaspreisrabatte im Umfang von 20 Milliarden Dollar in Aussicht und drohte gleichzeitig mit Lieferstopps und hohen Energiepreisen, falls es das Assoziierungsabkommen mit der EU unterschreiben sollte. Im vergangenen November lehnte die ukrainische Regierung dann in letzter Minute die Unterzeichnung ab.

Die Methode, eine politische Entscheidung durch wirtschaftlichen Druck herbeizuführen, hat Russland bereits mehrfach erfolgreich angewendet. So beim Streit in den vergangenen Jahren um Erlöse aus den Gaslieferungen, die über Weißrussland nach Westeuropa fließen. Als der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko Zollabkommen ignorierte und auch die russische Dominanz immer schärfer kritisierte, drohte der russische Konzern Gazprom mit einem Lieferstopp. Prompt lenkte Lukaschenko ein und gehört seitdem zu den eifrigsten Verfechter einer Eurasischen Union.
Souveräner und wirtschaftlich eigenständiger ist hingegen Kasachstan. Das Land, das eine über 7 000 Kilometer lange Grenze mit Russland hat, verfügt über große Rohstoffvorkommen und konnte seit Mitte der neunziger Jahre sein Bruttoinlandsprodukt mehr als verzehnfachen. Allerdings hält Präsident Nursultan Nasarbajew, seit 1991 ununterbrochen im Amt, nicht viel von liberalen Regeln, weder in der Politik noch in der Wirtschaft. Auf rund sieben Milliarden Dollar schätzt das russische Magazin The New Times das Privatvermögen seiner Familie, deren Angehörige zudem einflussreiche Posten in Politik und Wirtschaft besitzen.
Russlands Verbindungen zu Kasachstan sind zwar eng, es erhält aber immer mehr Konkurrenz durch China. Die chinesische Regierung gewährt den zentralasiatischen Staaten umfangreiche Kredite, bevorzugt sie bei wirtschaftlichen Abkommen und verstärkte in den vergangenen Jahren die politische Zusammenarbeit. Politisch brisant ist aber vor allem der Bau von Pipelines von Zentralasien nach China, die nicht über russisches Territorium verlaufen. »Mit dem Bau von Öl- und Gasleitungen aus Turkmenistan, Usbekistan und Kasachstan nach China ist eine Situation entstanden, in der ein einziger Abnehmer gleich vier Anbieter (inklusive Russland) hat und damit die Preise bestimmen kann«, urteilt die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Novosti. Dabei hatten Russland und China noch in den neunziger Jahren versucht, mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit ein gemeinsames antiwestliches Bündnis zu organisieren. Nun rivalisiert Russland über die Eurasische Union mit China um Einfluss auf Zentralasien.
Ob Putin seine ehrgeizigen Ziele erreichen und die neue Union erfolgreich aufbauen kann, ist daher ungewiss. Außer Armenien, das wegen des Konflikts mit Aserbaidschan auf russisches Wohlwollen angewiesen ist, zeigen die potentiellen Beitrittsländer entweder nur mäßiges Interesse an einer Union oder sie sind wie Tadschikistan und Kirgisien eher unerwünscht: Das durchschnittliche Einkommen ist in Russland zwölfmal höher als in den beiden Ländern.

So hängt viel vom Beitritt der Ukraine ab. Schließt sich das Land der »Östlichen Partnerschaft« an, verliert Moskau seinen Einfluss auf seine europäischen Anrainerstaaten. Wenn es China zudem gelingt, die zentralasiatischen Staaten an sich zu binden, bleibt Russland weitgehend auf sich allein gestellt. Aufgrund seiner großen Rohstoffvorkommen wird es zwar weiterhin von Bedeutung sein, geostrategisch würde es aber kaum mit den USA, der EU und China konkurrieren können.
Aber selbst im Erfolgsfall bleibt fraglich, was Putins Union ökonomisch eigentlich bezwecken soll. Weißrussland und die Ukraine sind arme Staaten, die von subventionierten russischen Energielieferungen abhängen. Die kasachische Wirtschaft wiederum ist wie die russische einseitig auf den Rohstoffexport ausgerichtet. Um zu »einem Pol der modernen Welt« zu werden, müsste sich die russische Wirtschaft diversifizieren und den Status als bloßer Energielieferant überwinden. So werden beispielsweise in Tschechien mehr Autos produziert als in Russland. In vielen industriellen und technologischen Bereichen sieht die Lage ähnlich aus.
Daher bleiben vor allem politische Ziele übrig. Anstelle der verpönten westlichen Demokratien erhofft sich Russland, mit der Eurasischen Union sein Modell der »souveränen Demokratie« zu institutionalisieren. Damit verbunden sind gelenkte Wahlen, die Herrschaft auf Lebenszeit wie im Falle Nasarbajew oder wohl auch bei Putin, sowie eine oligarchische Wirtschaftsstruktur, in der sich wenige auf Kosten der Allgemeinheit bereichern können, solange sie die politischen Hierarchien akzeptieren.
»Der Hauptzweck der Eurasischen Union wird unserer Ansicht nach sein, eine Gemeinschaft von Staaten zu schaffen, die diese Norm teilen und ihren Erhalt sichern. Was wir erleben werden, ist eine Art Heilige Allianz des 21. Jahrhunderts, eine geschlossene Gruppe von wirtschaftlich konsolidierten, aber politisch rückständigen Nationen«, urteilt das Center for Post-Industrial Studies in Moskau in einer Analyse über Putins Pläne. Ob das gelingen, hängt wesentlich davon, welchen Weg die Ukraine einschlagen wird. Und die Entscheidung darüber fällt vielleicht bald auf den Barrikaden am Maidan.