Die deutsche außenpolitische Debatte

Geläuterte Gauckler

Deutschland will mehr Einfluss auf die Weltpolitik nehmen. Dass niemand zu ­sagen vermag, wozu das gut sein soll, macht die außenpolitische Debatte nicht weniger beunruhigend.

Wenn Deutsche über Außenpolitik reden, reden sie meist über sich selbst, also über Deutschland und das, was »wir« tun oder besser bleiben lassen sollten. Das ist in der Linken so, wo vornehmlich über die moralisch korrekte Haltung zu diversen Konflikten, Bewegungen und Regierungen gestritten, Fragen der gesellschaftichen Emanzipation hingegen wenig Beachtung geschenkt wird. Es ist aber im politischen und journalistischen Establishment nicht anders, wie die als außenpolitische Debatte bezeichneten Äußerungen der vergangenen Wochen belegen, die von Bemerkungen des Bundespräsidenten Joachim Gauck, der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen und des Außenministers Frank-Walter Steinmeier angeregt wurden.
In der Linken müsste zunächst der Ausgangspunkt geklärt werden: Ist die globale Durchsetzung »westlicher« kapitalistischer Verhältnisse die Voraussetzung für den Übergang zum Sozialismus, wie es die historische Entwicklung nahezulegen scheint? Sollte weiterhin niemand eine Abkürzung entdecken, die sich nicht in Lobreden auf poststalinistische und »antiimperialistische« Diktaturen erschöpft, stellt sich die unbequeme Frage, welche Rolle die Linke im Prozess der Schaffung einer kapitalistischen one world spielen soll, und dies nicht nur bei der Bewertung von Militär­interventionen.
Angesichts der Schwäche der Linken mögen die Anworten derzeit machtpolitisch wenig relevant sein. Doch in den meisten Kämpfen um Demokratisierung und soziale Verbesserungen hat die Linke eine entscheidende Rolle gespielt. Theoretisch müsste es ja das Ziel einer bürgerlichen Außenpolitik sein, überall auf der Welt geregelte Formen kapitalistischer Ausbeutung im Rahmen der parlamentarischen Demokratie zu schaffen. Zwar ist die Ära der vorbehaltlosen Unterstützung rechter Diktaturen mit dem Kalten Krieg tatsächlich zu Ende gegangen, aber an ihre Stelle ist nur eine Akzeptanz mit Vorbehalten getreten, sofern es um Geschäftspartner geht, während auch reaktionärste Herrscher, wie der König von Saudi-Arabien, hofiert werden, wenn dies strategisch nützlich erscheint.

Da der Nationalstaat weiterhin der wichtigste Repräsentant der Kapitalinteressen ist, formuliert bürgerliche Außenpolitik zwangsläufig ein »nationales Interesse«. Hier erscheint die Propagierung einer aktiveren Außenpolitik Deutschlands zunächst rätselhaft, denn besser könnten die Geschäfte kaum laufen. Die Exportüberschüsse sind so hoch, dass selbst engste Verbündete Maßnahmen zu ihrer Reduzierung fordern, die Handelswege müssen nur gegen ein paar somalische Piraten verteidigt werden, die benötigten Rohstoffe sind auf dem Weltmarkt verfügbar und die Kosten für den Erhalt dieser Verhältnisse sind relativ gering. Gewiss, das alles kann sich irgendwann ändern, doch unmittelbare ökonomische Interessen an einer offensiveren Außenpolitik sind nicht ersichtlich. Das bestätigt das Schweigen der Unternehmerverbände, die ausschließlich die Förderung des sogenannten Freihandels anmahnen und sich ansonsten gut repräsentiert fühlen.
Die Repräsentanten Deutschlands glauben aber offenbar nicht, ihre Bürger für eine aktivere Außenpolitik begeistern zu können, bei der nichts herausspringt. So sagte Gauck in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz: »Deutschland tritt ein für einen Sicherheitsbegriff, der wertebasiert ist und die Achtung der Menschenrechte umfasst. Im außenpolitischen Vokabular reimt sich Freihandel auf Frieden und Warenaustausch auf Wohlstand.« Die Dichtkunst liegt ihm noch weniger als die Prosa, doch fasst er die deutsche Haltung treffend zusammen. In der Deutschland AG betrachtet man die Welt als eine Aktiengesellschaft und sich selbst als einen Anleger, dessen Einfluss nicht den Anteilen entspricht. Die Menschenrechte werden umfasst, so wie die Internet-Präsentation eines Unternehmens mittlerweile den Abschnitt »Unsere Werte« umfasst, und haben den gleichen Stellenwert wie die Verpflichtung auf den Umweltschutz für einen Ölkonzern.
Es geht um mehr Einfluss in der Weltpolitik, also um mehr Macht. Das auszusprechen, gilt in Deutschland aber als degoutant. Denn niemals nie und wirklich unter gar keinen Umständen strebt der geläuterte Deutsche nach Macht. Allerdings mag er sich nach gebührender Selbstprüfung bereit erklären, die schwere Bürde der Verantwortung auf sich zu nehmen, weil alle Welt ihn dazu drängt. »Deutschland ist eigentlich zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren«, sagte Steinmeier, ein Satz, der in dieser oder jener Version in keinem staatstragenden Kommentar zur Außenpolitik fehlen darf.

Nun ist allerdings Japan seit Jahrzehnten unambitioniert in der Weltpolitik, ohne dass sich die Welt daran stört. Allzu sehr wird auch Deutschland nicht gedrängt. Für den jüngst von Gauck erneut erhobenen Anspruch auf einen einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat gibt es so gut wie keine Unterstützung. In früheren Jahren waren es vor allem die USA, die von den Europäern und somit auch von den Deutschen höhere Rüstungsausgaben und eine stärkere Beteiligung an Militärinterventionen forderten. Da derzeit in beiden großen US-Parteien isolationistische Tendenzen vorherrschen, ist dieser Druck geringer denn je. Nur Frankreich fordert ein größeres Engagement Deutschlands im Rahmen der europäischen Außen- und Militärpolitik.
Auf eine größere Unterstützung für Interventionen vor allem Frankreichs in Afrika scheinen sich die praktischen Auswirkungen der angekündigten aktiveren Außenpolitik vorerst zu beschränken. Da die Zahl der eingesetzten Soldaten relativ gering bleiben dürfte und Fronteinsätze weiterhin vermieden werden sollen, trifft der Vorwurf des Militarismus die Sache nicht. Vielmehr sollen häufigere Einsätze der Bundeswehr die Entschlossenheit der Deutschland AG belegen, stärkeren Einfluss auf die globale Geschäftspolitik zu nehmen. Auffällig ist jedoch, dass jene Politiker und Journalisten, die ausländische Kritik an der deutschen Wirtschaftspolitik empört zurückweisen, im Hinblick auf Militärinterventionen einen Druck des Auslands herbeihalluzinieren, um sich ihm beugen zu können. Auffällig ist auch, dass bislang ausschließlich über Militäreinsätze und Rüstungspolitik gesprochen wurde, obwohl man sich in Deutschland doch so viel auf den Primat der Konfliktprävention zugute hält.
Der Beitrag Deutschlands zur Friedensssicherung beschränkt sich allerdings vornehmlich auf die unermüdlich vorgetragene Mahnung, dass die Menschen einfach mal mehr miteinander reden sollten, statt einander abzuschlachten. Nebulös bleiben aber auch die Ziele bei Militärinterventionen. »Im internationalen Verbund ist es wichtig, dass wir dann auch unsere Stimme erheben und unsere ganz klaren Vorstellungen einbringen«, mahnte von der Leyen. Welche Vorstellungen das sein sollen, verriet sie nicht.

Wenn es einmal konkret wird, wie bei der Lieferung von Patrouillenbooten an Saudi-Arabien, gleitet die Debatte in Absurdität ab. So redet sich Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel heraus wie ein Pubertierender, der heimlich Redtube geschaut hat und sich damit rechtfertigt, man habe ihm doch nur Youporn verboten: »Das ist ein völlig anderer Fall, als Panzer nach Saudi-Arabien zu liefern oder Fregatten an Unrechtsregime, die damit andere Länder bedrohen.« Die Grenze für die Lieferung an Diktaturen wäre somit bei der Korvette zu ziehen, dem Schiffstyp, der in der Größe zwischen Patrouillenboot und Fregatte liegt.
Man müsste, wenn man eine außenpolitische Debatte führen wollte, darüber diskutieren, ob es legitim und sinnvoll ist, die islamistische Diktatur der Sauds gegen die derzeit aggressivere islamistische Diktatur der iranischen Ayatollahs hochzurüsten. Doch Deutschland hofiert auch Repräsentanten des iranischen Regimes, dessen Erwähnung in diesem Zusammenhang daher unklug wäre, und man mag sich nicht die Frage stellen, welche Folgen eine Stärkung des saudischen Regimes, das eine Konfessionalisierung der Konflikte im Nahen Osten betreibt und jihadistische Gruppen unterstützt, haben kann. Bräsigkeit und intellektuelle Selbstgenügsamkeit werden auch in der Debatte über den deutschen Militär­einsatz in Afghanistan deutlich. »Der Einsatz der Bundeswehr war notwendig, konnte aber nur ein Element einer Gesamtstrategie sein«, bemerkte Gauck lapidar.
»Alles war verkohlt«, beschreibt General Stanley McChrystal, von Juni 2009 bis Juni 2010 Kommandant der US-Streitkräfte und der multinationalen Isaf-Truppen in Afghanistan, in seiner Autobiographie »My Share of the Task« seinen Besuch am Ort der Bombardierung zweier Tanklastwagen nahe Kunduz, die Georg Klein, damals Oberst und später zum General befördert, am 4. September 2009 durchgesetzt hatte. »Es war klar, dass die Lastwagen fest im Schlamm steckten, als sie getroffen wurden.« Die unmittelbare Gefahr eines Anschlags, mit der Klein die Bombardierung gerechtfertigt hatte, bestand nicht. Dass für McChrystal die zweite Phase seiner Dienstzeit als Kommandant in Afghanistan mit dieser Bombardierung begann, zeigt, welche Bedeutung er dem Vorfall beimisst, bei dem etwa 100, nach Angaben des Anwalts Karim Popal sogar 179 Zivilisten getötet wurden.
Anlass zu Selbstkritik und einer Militärreform war die Bombardierung nicht, die Bundesanwaltschaft bescheinigte Klein in offenkundigem Widerspruch zu den Fakten, alles richtig gemacht zu haben. Auch über die politischen Fragen des Afghanistan-Einsatzes wurde im parlamentarischen und journalistischen Establishment Deutschlands nie ernsthaft diskutiert. Geradezu begeistert äußerte man sich, als den Taliban Versöhnungsangebote gemacht wurden, schließlich wusste man schon immer, dass Afghanistan »sich nicht als Vorzeigedemokratie nach unseren Maßstäben eignet«, wie der damalige deutsche Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2009 sagte.

Wer nicht in Begriffen nationaler Ehre denkt, muss nicht darauf bestehen, dass »unsere Jungs« sich wie die der anderen an der Front tummeln. Wo der Kampf gegen rechtsextreme Terrorgruppen, ob Jihadisten oder christliche Milizen in der Zentralafrikanischen Republik, notwendig ist, sollten die professionellsten Truppen eingesetzt werden. Im Bereich der hochtechnologischen Kriegführung sind dies weiterhin Militäreinheiten der USA, bei gefährlichen UN-Einsätzen haben sich aber auch die Soldaten unter anderem Ruandas und Ugandas bewährt. Der deutschen Außenpolitik und der Bundeswehr fehlen die politische Reife und die Professionalität, die allein ein stärkeres Engagement sinnvoll machen könnten.
Bei den derzeitigen Militärinterventionen geht es meist nicht um spezifische Interessen von Staaten oder Konzernen, sondern um die Wiederherstellung der Bedingungen für eine geregelte kapitalistische Geschäftstätigkeit. Eingreifende ausländische Soldaten zertrampeln nicht den Garten Eden, da der Krieg längst im Gange ist. Deshalb gehen die Forderungen der meisten Linken an der Wirklichkeit vorbei. Sinnvoller wäre es zu überlegen, wie wenigstens die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution – dröge Politiker statt geliebte Führer, ein Job im Callcenter statt Hungerleiden auf kargem Ackerboden, eine Hochhauswohnung statt der Decke am Abwasserkanal, unfreundliche Polizisten statt Macheten schwingende Fanatiker – den mehreren Milliarden Menschen zugänglich gemacht werden können, die sie noch nicht genießen. Und hierzulande darauf zu drängen, dass die Deutschen das tun, was sie am meisten verabscheuen: bezahlen für eine Entwicklungspolitik, die ihnen nichts einbringt.
Denn beunruhigend an der deutschen Debatte ist gerade der Mangel an konkreten Interessen. Unermüdlich wird behauptet, dass Deutschland sich nun aber sowas von geläutert habe, dass es unentbehrlich für die Weltpolitik sei. Bereits jetzt hat Deutschland als Führungsmacht der EU größeren Einfluss als jeder andere westliche Staat mit Ausnahme der USA. Doch damit will man sich nicht begnügen. Der Machtzuwachs wird um seiner selbst willen angestrebt. Das spricht nicht dafür, dass Deutschland seinen Platz an der Sonne diesmal bereitwillig mit anderen teilen wird.