Die Europapolitik der Linkspartei

Gartenzwerge für Europa

Die Linkspartei hat sich auf ein Programm für die Europawahl geeinigt. Der Konflikt um ihre Europapolitik ist jedoch noch lange nicht beendet.

Manchmal taugen die Träume von gestern auch noch als Hoffnung für morgen. »Die erste anzugehende Aufgabe, ohne deren Lösung jeglicher Fortschritt ein trügerischer Schimmer bleiben würde, ist die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen«, schrieb der unabhängige italienische Kommunist Altiero Spinelli 1941 in faschistischer Haft auf der Mittelmeerinsel Ventotene. Das Ziel müsse »eine föderalistische Neugestaltung Europas« sein: die »Vereinigten Staaten Europas«.
Auf dem Europaparteitag der Linkspartei am vergangenen Wochenende in Hamburg erinnerte die Vorsitzende Katja Kipping an Spinelli und das von ihm gemeinsam mit seinen antifaschistischen Mitgefangenen Ernesto Rossi und Eu­genio Colorni ausgearbeitete »Manifest von Ventotene«. Es sei nicht nur »einer der wichtigsten programmatischen Entwürfe für eine europäische Einigung«, sondern auch das »Gründungsdokument für eine europäische sozialistische Linke«. Das Wissen darum, dass der Gedanke der europäischen Einigung »mit der Geschichte des Antifaschismus« eng verbunden und die europäische Idee »zutiefst eine linke« sei, sollte »uns einen«, rief die Parteivorsitzende den Delegierten zu.

Spinellis Forderung nach einem europäischen Bundesstaat erwähnte sie nicht. »Die europäische Revolution muss sozialistisch sein, um unseren Bedürfnissen gerecht zu werden; sie muss sich für die Emanzipation der Arbeiterklasse und für die Schaffung menschlicherer Lebensbedingungen einsetzen«, zitierte Kipping stattdessen aus dem Manifest. Da konnten sogar diejenigen klatschen, die zwar mit Revolution viel, mit Europa jedoch wenig anfangen können. Die Linkspartei bleibt zerstritten, wenn es um Europa geht. Daran ändert auch nichts, dass es gelungen ist, »in großer Einmütigkeit« das Europawahlprogramm zu beschließen, wie es der Co-Vorsitzende Bernd Riex­inger formulierte.
Vor der Hamburger Veranstaltung hatte es einen heftigen Streit um das Programm gegeben. Abweichend von der ursprünglichen Vorlage der beiden Vorsitzenden Kipping und Riexinger hatte im Parteivorstand eine knappe Mehrheit für eine Passage in der Präambel gestimmt, in der es heißt, die EU sei »zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht« geworden, die »mehr faschistische Parteien, rechtspopulistische Hetzer und mehr Menschenjagd an den Grenzen« erzeugt habe. Insgesamt las sich der innerparteilich heftig umstrittene Entwurf wie ein Manifest gegen die EU, die für fast alles Böse der Welt verantwortlich sein sollte.
Davon ist nun nicht viel übriggeblieben. Auf dem Parteitag durfte der Flügel um die Bundestagsabgeordneten Sahra Wagenknecht, Wolfgang Gehrcke und Diether Dehm zwar noch ein paar europakritische Fensterreden halten, aber nach zähem Ringen hinter den Kulissen hatten die Traditionslinken bereits vor Konferenzbeginn mehrheitlich dem Druck der sogenannten Reformer nachgegeben. Ihre Kompromissbereitschaft dürfte nicht zuletzt der Einsicht in die neuen Mehrheitsverhältnisse geschuldet gewesen sein. Bei der Vergabe der Delegiertenmandate fiel erstmalig der Westbonus weg, auf den sich die PDS und die WASG bei ihrer Vereinigung für eine Übergangszeit verständigt hatten. Die mitgliederstarken Ostverbände, die mehrheitlich als gemäßigt und regierungswillig gelten, besetzten deshalb gut zwei Drittel der Plätze. Sie sind allein schon deswegen gegen allzu scharfe EU-Kritik, weil SPD und Grüne bei jeder sich bietenden Gelegenheit bekunden, ohne klares Bekenntnis zur EU sei an ein gemeinsames Regieren nicht zu denken.
So verabschiedeten die Delegierten mit großer Mehrheit eine neu formulierte Präambel. Alle berechtigte Kritik an den derzeitigen Verhältnissen sei »noch lange kein Grund, sich in die Enge der alten Nationalstaaten mit ihren traditionell patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen zurückzuwünschen«, heißt es nun. »Die Alternative ist nicht der Rückzug aus der Union, sondern der Kampf um ihre Veränderung.« Die Linkspartei wolle ein Europa, »das sozialer, gerechter, ökologischer, feministischer, friedlicher und weltoffener ist«. Dem Wahlprogramm vorangestellt ist ein Zitat des im vergangenen Jahr verstorbenen Lothar Bisky: »Friedliche Lösung von Konflikten, indivi­duelle Freiheitsrechte, solidarisches und demokra­tisches Zusammenleben: Das sind die Erwartungen, die Menschen in den Mitgliedstaaten an die EU-Mitgliedschaft haben. An deren Erfüllung müssen wir gemeinsam arbeiten.«

Der Grundkonflikt ist jedoch nicht gelöst. »In unserer Partei gibt es keine Antieuropäer«, behauptete Sahra Wagenknecht zwar in ihrem heftig beklatschten Redebeitrag. Doch zugleich reduzierte sie die EU auf eine »Fassadendemokratie« und einen »Lobbyisten-Club von Banken und Konzernen«. Tatsächlich überwiegt bei vielen in der Linkspartei weiterhin eine linksnationalistisch angehauchte Skepsis, was auch den Gefühlen eines Teils der Wählerschaft entspricht. Dagegen sagte auf dem Parteitag der den Reformern zugerechnete Bundestagsabgeordnete Jan Korte: »Wir sind nicht die Gartenzwerg-Linke! Wir sind nicht die Volksmusik-Linke!« Der Applaus für ihn blieb allerdings eher mau.
»So kritisch wie nötig, mit so vielen sozialen, ökologischen und antimilitaristischen Reformideen wie möglich«, kommentierte Kipping das beschlossene Wahlprogramm. Zahlreiche inhaltliche Konflikte wurden allerdings schlicht ausgeklammert. Ein Beispiel dafür ist der Streit um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei, den insbesondere Oskar Lafontaine bekanntermaßen ablehnt. Kein Wort findet sich zu dieser Frage im verabschiedeten Programm. Schon bei den vorangegangenen beiden Europawahlen hatte sich die Partei um eine eindeutige Stellungnahme gedrückt. 2004 konnte sich die damalige PDS immerhin noch zu dem Satz durchringen: »Die PDS lehnt alle Versuche ab, die Aufnahme der Türkei mit Verweis auf sogenannte religiöse Gründe auszuschließen.«
Die weiterhin bestehenden innerparteilichen Differenzen sind immens, wurden jedoch nicht offen ausgetragen. »Die europäische Integration muss bei aller Kritik gegen ihre falschen Freunde verteidigt werden als eine ursprünglich linke und humanistische Idee«, forderte Gregor Gysi. Dazu gehört für den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Linkspartei auch ein Bekenntnis zum Eu­ro. Ohne Wagenknecht und Lafontaine namentlich zu erwähnen, grenzte er sich scharf von beiden ab. In einem Interview kurz vor dem Parteitag hatte Wagenknecht in Anlehnung an einen Vorschlag Lafontaines gefordert, »dass ein neues Währungssystem mit stabilen Wechselkursen und Kapitalverkehrskontrollen an die Stelle des Euro tritt«. Einer Diskussion über das Ende des Euro erteilte Gysi eine deutliche Absage: »Wenn es den Euro nicht mehr gäbe, wäre das ein Rückschritt bei der europäischen Integration, den gerade wir nicht wollen, auch dann, wenn wir bei der Einführung vor Fehlentwicklungen gewarnt haben.« Das hätte eine spannende Debatte werden können. Doch Wagenknecht kam auf dem Parteitag kein Ton dazu über die Lippen.
Während die Programmdebatte ohne Überraschungen über die Bühne ging, konzentrierten sich die Parteiflügel auf den Kampf um die aussichtsreichen Listenplätze. Ende November hatte der Bundesausschuss der Linkspartei einen Wahlvorschlag beschlossen, der jedoch der Parteinomenklatura im Osten missfiel. Also verständigten sich die Vorsitzenden der ostdeutschen Landesverbände gemeinsam mit Gregor Gysi und Dietmar Bartsch in alter PDS-Manier auf eine Liste nach ihrem Geschmack. Exponenten des linken Parteiflügels wie der Friedensaktivist Tobias Pflüger von der »Antikapitalistischen Linken« und die Gewerkschafterin Sabine Wils von der »Sozialistischen Linken« wurden gestrichen. Auf Platz sechs konnte sich Fabio de Masi, ein Mitarbeiter Wagenknechts, knapp gegen Dominic Heilig vom Forum demokratischer Sozialismus (FdS) behaupten. In den Umfragen liegt die Linkspartei derzeit bei etwa acht Prozent. Mit diesem Ergebnis könnte sie acht Abgeordnete ins Europarlament schicken. Spitzenkandidatin ist Gabriele Zimmer, die ohne Gegenkandidatin mit 76,5 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt wurde. Die 58jährige ist eines von vier ehemaligen SED-Mitgliedern auf den ersten acht Plätzen.

Vor fünf Jahren hatte Lothar Bisky die Liste angeführt. In Hamburg ließ es sich kaum ein Redner nehmen, an ihn zu erinnern. Was sie allerdings allesamt unerwähnt ließen, ist eine kleine bemerkenswerte Episode. Wenige Monate vor seinem Tod begegnete Bisky in Straßburg dem Pub­lizisten Hendryk M. Broder, der gerade auf »Europa-Safari« war. Es entspann sich ein kurzer Dialog. Warum er sich in seinem Alter noch das Europaparlament antue, fragte Broder. »Für mich persönlich ist es ein vernünftiger Abschied aus der Politik, der ohne Krach und ohne Blessuren stattfindet für alle Beteiligten, auch für mich«, antwortete Bisky, zu dessen hervorstechenden Eigenschaften eine beeindruckende Ehrlichkeit zählte. Ob das den Aufwand wert sei, wollte der EU-Gegner Broder weiter wissen. Bisky sagte: »Na ja, es ist ja nicht langweilig hier, also ein bisschen habe ich schon Interesse daran. Das ist die Ebene Parlament, die ich noch nicht kannte.«
Besser hätte er nicht ausdrücken können, dass auch beim »Reformerflügel« die Begeisterung für Europa nicht übermäßig ausgeprägt ist. Das unterscheidet ihn von Altiero Spinelli. Als Unabhängiger für den italienischen PCI ins Europaparlament gewählt, kämpfte er bis zu seinem Lebensende 1986 für seinen Traum eines einigen und solidarischen Europa.