Sicherheit selbst gemacht: Bürgerwehren in Mexiko

Sicher ist sicher

Weil der mexikanische Staat die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger vor der Gewalt der Drogenkartelle nicht garantieren kann, nehmen Bürgerwehren die bewaffnete Verteidigung und immer häufiger auch die Rechtssprechung selbst in die Hand. Mit sehr fragwürdigen Methoden, wie ein Besuch im Bundesstaat Guerrero zeigt.

Das Gefängnis war vor kurzem noch ein kleiner Laden. Hinter den Gittern liegen drei Halbwüchsige auf dem Boden, ein älterer Mann macht Liegestütze, die anderen feuern ihn an. In der Ecke, auf der einzigen Bank, sitzt eine junge Frau und kaut an ihren Fingernägeln. Die Fenster auf der Rückseite stehen offen. Sie sind nicht vergittert. Es wäre kein Problem, hinaus zu klettern. Wären davor nicht etwa 30 Männer mit Gewehren, Pistolen, Funkgeräten und Patronengurten. Sie tragen beige T-Shirts, auf denen »Ein gerechtes Volk hat ein sicheres Land« steht. Sie sind ein Geschenk des Gouverneurs, dessen Gewaltmonopol die Milizionäre außer Kraft gesetzt haben.
Die bewaffneten Männer sind das »Selbstverteidigungskomitee« des Städtchens Tierra Colorada im Hochland des mexikanischen Bundesstaat Guerrero, fünf Stunden südlich von Mexiko-Stadt entfernt, eine Stunde nördlich der Pazifikküste – dem Gebiet des Sinaloa-Drogenkartells. Im vergangenen Jahr lag die Mordrate in dem Staat bei 77 je 100 000 Einwohnern, die höchste in ganz Mexiko, hundert Mal höher als in Deutschland. Guerrero ist eines der ärmsten Gebiete des Landes. 70 Prozent der Menschen leben von weniger als vier Dollar am Tag. Wer jung ist, hat zwei Möglichkeiten, der Armut zu entkommen: Fortgehen – oder sich den Narcos anschließen.
Davon ist heute nichts zu spüren. Mädchen laufen auf der Straße hin und her, verkaufen geschnittene Mangos in Plastikbechern und Süßigkeiten. Frauen kommen mit Schüsseln und Flaschen und reichen sie durch die Gitter ins Innere der Zelle. Mittagessen. Die Bürgerwehrler lassen sie gewähren. Sie sitzen im Schatten vor ihrem Gefängnis, tippen auf ihren Handys und schwatzen. Vor sich haben sie Sandsäcke mehr als einen Meter hoch aufgestapelt. Der mit einer blauen Folie abgedeckte Schutzwall erstreckt sich über die ganze Breite des Gefängnisses. Davor haben sie einen Checkpoint errichtet, vor den orangefarbenen Pylonen warnt ein grünes Schild: »Bremsen Sie ab. Kontrollpunkt.« Doch in der Mittagshitze wird kein Auto kontrolliert. Alle dürfen durchfahren.

Im vergangenen Jahr hatte die ARD eine Reportage über die Bürgerwehr in der Nachbarstadt Ayutla gesendet. Darin war unter anderem zu sehen, wie die Milizionäre korrupte lokale Polizisten verhafteten. Gonzales Talaviera, Mitte 50, massig und ein wenig hektisch, ist der einzige, der kein beigefarbenes T-Shirt trägt. Er hat die Bürgerwehr in Ayutla aufgebaut und seit kurzem tut er hier dasselbe. »Das System der Regierung wurde von der Kriminalität übernommen. Wir hatten hier keinen Schutz. Es gab Überfälle, Schutzgelderpressung, Morde, Vergewaltigungen, Entführungen, Drogenhandel.« Vor Monaten, berichtet Talaviera, wurde in der Gegend ein Bürgermeister entführt. Dann ein Gemeindevertreter. Dann noch einer. »Dann haben wir gesagt: Nicht einer mehr!«
Talaviera ist ein Funktionär der Gemeinschaft der Dörfer und Organisationen von Guerrero (UPOEG). Noch vor einem guten Jahr beschränkte sich deren Arbeit darauf, bei der Regionalregierung in Chilpancingo für bessere Straßen und funktionierende Stromleitungen vorzusprechen. Doch dann verwandelte sie sich in eine Miliz. Sechs Dörfer waren es am Anfang, seitdem haben sich 600 weitere angeschlossen. 4 000 Mann stehen unter Waffen, behauptet Talaviera. In Medienberichten kursiert die Zahl von 2 000. 60 davon, sagt Talaviera, kümmern sich um Tierra Colorada. »Bezahlt wird keiner von uns.«
Die Milizionäre arbeiten in Schichten. Es gibt einen Dienstplan; mal patroullieren sie einen Tag pro Woche, mal öfter. Eine Ausbildung hat hier keiner. »Die Männer bringen ihre eigenen Gewehre mit. Sie können damit jagen. Also können sie auch schießen.« Während der Patrouillen kümmern sich Nachbarn um die Felder der Milizionäre. »Die Wache«, auch sie ist in einem ehemaligen Ladenlokal, neben dem Gefängnis, »ist rund um die Uhr besetzt«, sagt Talaviera. Wie sie an die Gebäude gekommen sind? »Die Häuser wurden uns von Bürgern zur Verfügung gestellt.«
Er lässt sich auf einen Stuhl im Schatten vor der Taco-Bude neben dem Gefängnis fallen. »Wie fühlst du dich jetzt«, fragt er die Kellnerin. Die junge Frau zuckt mit den Schultern. »Besser?«, sie nickt schüchtern. »Siehst Du? Das ist es, was zählt: Was das Volk sagt«, erklärt Talaviera zufrieden. Und das Volk habe kein Vertrauen mehr in die Polizei. »Die Leute kommen zu uns und machen Anzeigen. Wir suchen die Verbrecher, nehmen sie fest und übergeben sie der Staatsanwaltschaft. Aber die lassen sie laufen.«
Was Talaviera und seine Männer tun, ist Selbstjustiz. Das Wort hört er nicht gern. »So versucht die Regierung, uns zu diskreditieren. Die Regierung behauptet, wir seien Paramilitärs oder gleich Narcos. Aber wir sind nichts von alledem.« Kürzlich haben die Milizionäre eine Pressekonferenz in der Hauptstadt gemacht, um das zu erklären. Das Echo der Medien war gespalten. Doch rundheraus abgelehnt werden die Milizionäre in der öffentlichen Debatte nicht. Zu groß ist das Versagen des Staates, zu massiv die Gewalt im Land.
»Wir machen nur Gebrauch von unserem Recht auf Selbstverteidigung. Denn der Staat verteidigt uns nicht. Wir haben Waffen, ja. Aber wir sind nicht gegen den Staat. Wir helfen ihm, seine Pflicht zu erfüllen.« Und der nehme diese Hilfe auch an. Jedenfalls auf regionaler Ebene. »Wir haben einen Pakt mit dem Gouverneur unterzeichnet«, sagt Talaviera. Im nächsten Schritt wolle die UPOEG Sachleistungen fordern: Videoanlagen, »damit wir die Straßen überwachen können«. Benzin, »damit wir patroullieren können«. Und am liebsten hätte Talaviera dazu auch gleich noch die Autos, die die Polizei den Narcos abknöpft. Ach ja: »Und eine monatliche Ration an Grundnahrungsmitteln für unsere Aktivisten und ihre Familien.« Doch darüber werde »noch geredet«.

Ángel Aguirre Rivero, der linke Gouverneur von Guerrero, spricht von einem von »Respekt und Dialog gekennzeichneten Verhältnis« zur UPOEG. Dass staatliches Geld an sie fließe, schließt er aber aus. Viel heißen muss das in Mexiko nicht. »Natürlich sehen viele in unserer Arbeit eine Infragestellung des Gewaltmonopols«, sagt Talaviera. »Aber sie sehen, dass das, was wir tun, notwendig ist.« Eine Zusammenarbeit mit der Polizei lehnt er ab: »Es wird keine gemeinsamen Patrouillen geben«, die Polizei sei zu korrupt.
Lassen sich die Narcos und die Polizei das bieten? »Ich werde jeden Tag bedroht. Es gibt Anrufe, Morddrohungen, Schmierereien.« Natürlich habe er Angst, »aber noch mehr Angst habe ich, nichts zu tun. Es ist ein Kampf um die Würde, das Recht, um eine bessere Zukunft. Das braucht Opfer. Das kostet unglaubliche Kraft, manchmal kostet es das Leben.«
Zunächst aber kostet es die Freiheit und zwar die der Dorfbewohner. Die Miliz wird von einem zwölfköpfigen, von den Dorfbewohnern gewählten Koordinationsrat geführt. »Wir sind die legitimste Polizei der Welt«, sagt Talaviera. »Deine Nachbarn schlagen dich vor, für die Sicherheit aller zu sorgen.« Und wer nicht will? »Irgendwann musst du. Du kannst nicht Teil dieser Gesellschaft sein und dich auf Dauer diesem Dienst verweigern.«
Der Erfolg gebe der Miliz Recht. »Wir haben die sichersten Dörfer des Landes. Es gibt hier keine Überfälle mehr«, sagt Talaviera.
Wer das nicht glauben will, mit dem geht er über die Straße, zur Pizzeria »Bei Tonio«, wo der Wirt von den Erpressungen erzählt: »Mal wollten sie 300, mal 500 Pesos. Sie kommen, zerren dich in ihr Auto, fahren um den Block und sagen: ›Du bezahlst‹. Und dann kommen sie wieder und holen sich ihr Geld. Es war hier nicht auszuhalten. Niemand konnte hier in Ruhe ein Geschäft haben. Wir wurden terrorisiert.« Das sei nun vorbei. Dafür zahlt er heute an die Milizionäre – »aber nur so viel ich geben will«, versichert er. Talaviera steht daneben und nickt. Eine genau Summe nennt er jedoch nicht. »Unterschiedlich«, sagt er. Beim letzten Mal sei es jedenfalls viel weniger gewesen als früher das Schutzgeld. Er tue das freiwillig und es sei eine Beteiligung an den Kosten für die Arbeit der Dorfschützer. »Die Polizei steckt mit den Verbrechern unter einer Decke, die helfen dir nicht. Vorher ist keiner mehr nach acht Uhr auf die Straße gegangen. Heute gehen die Leute abends wieder raus.«
Die Policia Federal, die Bundespolizei, hat sich aus der Stadt zurückgezogen. Dafür gibt es eine Wache der Policia Municipal, die der Regionalregierung untersteht und als besonders korrupt gilt. Zwei Polizisten lehnen an ihrem Wagen, der vor der Wache geparkt ist. Zu ihren selbsternannten Kollegen sagen sie nichts.
In den kommenden Monaten wollen die Milizionäre ein eigenes Justizsystem aufbauen. Es soll auf dem indigenen Traditionsrecht basieren, das usos y costumbres genannt wird, was sich etwa mit »Gebräuche und Gewohnheiten« übersetzen lässt. »Wir setzen nicht auf Strafe, sondern auf Umerziehung«, sagt Talaviera.
Einen ersten Richter, der das neue Justizsystem vorbereitet, gibt es auch schon. Er heißt Inocencio Alvarado Ramirez und ist der Dorfarzt. Bislang kümmert er sich um kleinere Straftaten. Am Nachmittag sitzt er hinter einem Schreibtisch in der Wache neben dem Gefängnis. Er hält einen Pfeifenkopf hoch. »Riech mal«, sagt er. Es riecht nach verbranntem Marihuana. Der Besitzer, ein Jugendlicher, sitzt auf einem Holzstuhl in der Ecke, bewacht von drei Männern mit Gewehren, und sagt nichts. Sie haben ihn bei einer Straßenkontrolle angehalten und durchsucht.
Vor Ramirez liegt ein Zettel. »Ich erbitte ihre Hilfe«, steht darauf. Es ist ein vorformulierter Text: »Er ist zu rebellisch und trifft sich mit Menschen, die ihn auf schlechte Wege führen. Ich erbitte seine Umerziehung.« Der Vater des Jungen sitzt auf der anderen Seite des Tisches. Er kann weder lesen noch schreiben. Ramirez liest ihm vor, dann drückt der Vater seinen Finger in ein Tintenkissen, unterzeichnet mit einem Fingerabdruck und geht.
»Die Umerziehung besteht aus gemeinnütziger Arbeit und Erziehungsgesprächen«, erläutert Ramirez. »Er kann morgens zu Schule gehen, nachmittags macht er gemeinnützige Arbeit.« Den Rest der Zeit sitzt er in der Zelle. Dabei hat er keine Straftat begangen. »Wir sperren ihn ja auch nicht ein. Er kann raus«, sagt Ramirez und präzisiert: »Er kann zur Schule und zur gemeinnützigen Arbeit. Das ist Umerziehung. Die Gefängnisse in Mexiko sind anders. Wer da rein geht, sitzt in völlig überfüllten Zellen, wird misshandelt und kommt viel krimineller raus, als er reingekommen ist.« Trotzdem berauben sie den Jugendlichen seiner Freiheit. Was, wenn er sich einen Anwalt holt, der beim Gericht in der Kreisstadt einen Beschluss erwirkt, dass sie ihn freilassen müssen? »Die Anwälte sind Teil des Verfassungssystems. Das gilt bei uns nicht. Wenn die Polizei käme, könnte er gehen. Aber dann verliert er das Recht, bei seinen Eltern zu wohnen und muss sehen, wo er bleibt. Entscheidend ist, ob er von seinen Eltern abhängig ist oder sich selbst versorgt.« Die Eltern hätten immer die Möglichkeit, das Kind zu besuchen: »Wenn sie nach zwei Wochen sagen, es reicht, können beide Parteien sagen, dass er raus soll. Aber dann müssen sie eine Erklärung unterschreiben. Wenn er rückfällig wird, verdoppelt sich die Zeit der Umerziehung auf sechs Monate.« Wie sähe ein Rückfall aus? »Nicht arbeiten, den Eltern nicht gehorchen, schlechter Umgang.« Was ist ›schlechter Umgang‹? »Es gibt junge Leute, von denen alle wissen, dass sie sich schlecht verhalten. Und wer sich mit denen trifft, der hat schlechten Umgang. Das ist Prävention. Wir wollen nicht, dass die ­Jugendlichen den gleichen Weg einschlagen.«

Freiheitsentzug, Präventivstrafe, Zwangsarbeit, kein Anwalt, keine Widerspruchsinstanzen, keine geschriebenen Gesetze – wie die Miliz mit abweichendem Verhalten umgeht, ist nicht nur mit dem westlichen Rechtsverständnis in jeder Hinsicht unvereinbar, es widerspricht auch der mexikanischen Verfassung, da es festgeschriebene Grundrechte verletzt. In Tierra Colorada interessiert das niemanden. »Das Verfassungssystem ist zu einem Geschäft für Kriminelle und die Herrschenden geworden. Bei Wahlen werden die Leute gekauft. Wir wollen deshalb das alte System zurück, das die Legitimation durch die Dorfversammlung vorsieht«, sagt Ramirez. Wie will er verhindern, dass die traditionelle Justiz und ihre Polizei von eigenen Gnaden nicht ebenso korrupt wird, wie die staatliche? »Ständige Überwachung durch das Volk«, lautet die Antwort.
Insgesamt 24 Richter sollen die Dorfbewohner hier in den kommenden Wochen wählen, für eine Amtszeit von »ein bis drei Jahren«. Bekommen sie dafür eine Ausbildung? Für die Rechtskunde, die Erziehungsgespräche? »Man lernt im Leben jeden Tag«, sagt Ramirez.
»Bei schweren Straftaten geschieht das gleiche wie bei leichten: Arbeit. Umerziehung. Der Schaden muss wieder gutgemacht werden«, doch das ist nicht alles. Die Milizionäre setzen auch auf den Pranger. Denn bei der Arbeit müssen die Delinquenten ein T-Shirt tragen, auf dem steht, was sie verbrochen haben. Das System funktioniere im Nachbarstaat Oaxaca so gut, dass dort die früheren Verbrecher dann Mitglieder der Selbstverteidigungskommittees werden, »das ist der Unterschied zu den staatlichen Gefängnissen«, ist sich Ramirez sicher.
Führt dieses System nicht zu einer Doppelbestrafung, wenn die staatliche Justiz irgendwann doch Verbrecher anklagt, die schon im Kerker der Miliz gesühnt haben? Ramirez lacht. »Das wird nicht passieren. Die Justiz macht nichts. Das wissen wir genau.«