Anaís Córdova P. und Marcelo Echeverría M. im Gespräch über die Abtreibungsdebatte in Ecuador

»Abtreibung ist die Entscheidung jeder einzelnen Frau«

Nach dem neuen Strafgesetzbuch in Ecuador droht einer Frau, die eine Abtreibung vornehmen lässt, selbst dann eine Gefängnisstrafe, wenn sie nach einer Vergewaltigung schwanger geworden ist. Gegen diese Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen gründeten Aktivistinnen und Aktivisten eine Kampagne mit dem Namen YoSoy65. Die Jungle World sprach mit Anaís Córdova P. und Marcelo Echeverría M., Sprecherin und Sprecher der Kampagne über die Abtreibungsdebatte und Frauenrechte in Ecuador.

Worum geht es der Kampagne YoSoy65?
Echeverría: Es ist eine Kampagne von jungen Frauen und Männern. Die Kampagne entstand als Antwort auf die harte Realität in Ecuador. Eine von vier Frauen hat sexuelle Gewalt erlebt. Im Fall, dass eine Frau vergewaltigt worden ist und entscheidet abzutreiben, kann sie für zwei Jahre ins Gefängnis kommen. Das empfinden wir als Wahnsinn.
Córdova: Endlich hat man in Ecuador begonnen, über Abtreibungen zu sprechen. Unsicher durchgeführte Schwangerschaftsabbrüche sind eine häufige Todesursache in Ecuador. Ecuadorianische Frauen, die abtreiben wollen und auf unsichere Abtreibungen zurückgreifen müssen, sehen sich Gewalt wegen ihrer Entscheidungen gegenüber, zusätzlich zur Gewalt, die eine Vergewaltigung darstellt.
Was war der konkrete Anlass für die Gründung der Kampagne?
Córdova: Am 10. Oktober 2013 begann eine Parlamentsdebatte darüber, im neuen Strafgesetzbuch Abtreibungen im Fall von Vergewaltigungen zu ermöglichen. Einige Abgeordnete und ein großer Teil der Gesellschaft waren für eine Entkrimina­lisierung. Aber leider legte der Präsident, Rafael Correa, sein Veto ein. Davon ausgehend haben wir entschieden, dass es notwendig ist, die Bevölkerung über die Zustände zu informieren, in der unsere Freundinnen, Schwestern und wir selbst in diesem Land leben.
Das neue Strafgesetzbuch wurde dann verabschiedet und beinhaltet weiterhin den Straftatbestand der Abtreibung.
Córdova: Abtreibung wird weiterhin bestraft, im Fall von Vergewaltigungen und auch sonst. Trotzdem ist es nicht gänzlich illegal, in Ecuador abzutreiben. Ein Prozent der Frauen dürfen im Vergewaltigungsfall abtreiben, und zwar diejenigen, die unter einer geistigen Behinderung leiden. Vor 70 Jahren wussten die Politiker in Ecuador bereits, dass es wichtig ist, dass Frauen dieses Recht haben. Heute fordern wir schlichtweg, dass das Gesetz aktualisiert wird.
Welche Risiken birgt die Illegalisierung von Abtreibungen?
Echeverría: Da sie nicht legal sind, müssen Schwangere oft auf unsichere Methoden und Orte zurückgreifen. Das kann zu langfristigen ­gesundheitlichen Komplikationen führen, bis hin zum Tod. Doch selbst wenn es illegal ist, treiben Frauen ab und werden es weiterhin tun. Daher muss der Staat die Verantwortung übernehmen, die Gesundheit der Frauen zu schützen, und er muss ihnen die Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden.
Córdova: Am häufigsten wird in Ecuador mit Rattengift abgetrieben oder indem Stricknadeln oder andere spitze Gegenstände in die Vagina eingeführt werden. Oder die Frauen gehen an geheime Orte, wo keine Betäubung verwendet wird und die unhygienisch sind. Auf der anderen Seite gibt es Frauen, die sich für den Suizid entscheiden. Suizid ist die häufigste Todesursache von jungen Menschen in Ecuador, und die beiden Hauptursachen dieser Suizide sind Gewalt und Schwangerschaft.
Welche Reaktionen gab es bisher auf die Kampagne?
Echeverría: Wir bekamen bis jetzt viel Zuspruch. Wir nähern uns 10 000 Likes auf Facebook. Mehr als 2 000 Personen haben unsere Petition an den Präsidenten unterzeichnet, dass er die Gesetze erneuern soll.
Gab es Reaktionen von Politikerinnen und Politikern oder anderen politischen Organisationen?
Echeverría: Wir werden bereits von einigen Frauenrechtsorganisationen unterstützt. Was Politiker angeht, gab es so gut wie keine Verlautbarungen. Wir hatten ein bisschen Präsenz in den Medien. Insgesamt wurde die Kampagne sehr gut aufgenommen, und es begeistert uns, dass Argumente, die Menschen anbringen, die gegen unser Anliegen sind, sofort von Menschen widerlegt werden, die sich Gedanken um die Gesundheit und das Leben von Frauen machen. Generell war die Akzeptanz sehr viel größer als die Kritik.
Wie bewerten Sie die Chancen, die Gesetzgebung zu verändern, um die es in der Kampagne geht?
Echeverría: Unsere Petition hat keine rechtliche Wirkung, aber sie ist ein erster Schritt. Wir wissen zum jetzigen Zeitpunkt bereits, dass wir die Gesetze auf kurze Sicht nicht werden beeinflussen können. Bis zum Oktober vergangenen Jahres wurde in Ecuador nie öffentlich über Abtreibung gesprochen. Was wir also wollen, ist, dass die Menschen Zugang zu Fakten haben, dass sie über das Thema sprechen und die Debatte weiter geführt wird.
Córdova: Jeder Veränderung in der Gesetzgebung geht eine Veränderung in der Gesellschaft voraus. Worum es uns also geht, ist die gesellschaftliche Entkriminalisierung. Ohne dass die Leute darüber sprechen, ohne dass es eine offene Diskussion gibt, gibt es keine Möglichkeit, etwas zu entkriminalisieren. Indem wir das Thema ans Licht bringen, gehen wir einen Schritt in die Richtung, dass es irgendwann eine gesetzliche Änderung geben kann.
Einer Umfrage zufolge sind 65 Prozent der ecuadorianischen Bevölkerung für die Entkriminalisierung von Abtreibung nach einer Vergewaltigung, daher ja auch der Name der Kampagne: YoSoy65 (Ich bin 65). Warum ist es dann so schwierig, mit einem solchen Gesetz zu brechen?
Echeverría: Weil jetzt erst langsam offensichtlich wird, wie viele wir sind. Vorher haben die Menschen einfach angenommen, dass alle gegen Abtreibungen seien, ganz einfach weil sie Katholiken sind. Man nimmt an, dass 90 Prozent der Befragten Katholiken sind, und trotzdem sind 65 Prozent der Bevölkerung mit der Entkriminalisierung einverstanden. Ich glaube, dass Abtreibung für die Politiker generell ein so heikles Thema ist, dass sie es bevorzugen, dagegen zu sein und mit dem imaginären Volkswillen übereinzustimmen, der sich angeblich gegen Abtreibungen richtet. Was wir wollen, ist, dass sie sehen, dass es eine Menge Unterstützung für eine Entkriminalisierung gibt.
Wer sind Ihre Gegenspieler in der Debatte um einen sicheren Schwangerschaftsabbruch?
Córdova: Der »Observatorio Católico« (eine Website, Anm. d. Red.) und eine Bürgerbewegung, die sich »14 Millones« nennt, sind unsere Hauptgegner. Das sind im Grunde fanatische Antifrauenrechtsgruppen, die den gleichen Diskurs führen, wie er in fast allen Ländern geführt wird, der weder auf der Realität, noch auf Zahlen, noch darauf beruht, dass wir in einem weltlichen Staat leben.
Positioniert sich die Kampagne in irgendeiner Weise zum Thema Recht auf Entscheidung und auf Abtreibung in Fällen, in denen keine Vergewaltigung vorausging?
Echeverría: Die Mehrheit der Gruppe befürwortet eine Entkriminalisierung von Abtreibungen in allen Fällen. Aber beim Thema Vergewaltigungen ist es für viele Menschen völlig klar, dass man eine Frau, die vergewaltigt wurde, nicht noch obendrein ins Gefängnis stecken kann, wenn sie abtreibt. Weil das der Punkt ist, an dem die Mehrheit der Menschen in Ecuador sich einig ist, erschien es uns gut, uns hierauf zu konzentrieren, um dann später von weiteren Problemen zu sprechen.
Wie unterscheidet sich die Gesetzgebung zu Abtreibungen in Ecuador von der in anderen Ländern in Lateinamerika?
Córdova: Ecuador und Peru haben Abtreibungen straffrei gestellt für vergewaltigte Frauen mit geistiger Behinderung. Kolumbien und Bolivien haben Abtreibungen nach Vergewaltigungen ­legalisiert. Argentinien auch, trotzdem gibt es einige exemplarische Fälle von Frauen, die sich zum Abbruch entschieden haben und inhaftiert wurden. Uruguay hat Abtreibungen seit 2012 in allen Fällen legalisiert. Mittelamerika ist diesbezüglich insgesamt sehr verschlossen – eine Frau, die abtreibt, geht in jedem Fall ins Gefängnis. El Salvador hat, was das angeht, eine der rechtesten Verfassungen. Mexiko ist ein ziemlich interessanter Fall, da der Hauptstadtbezirk Abtreibungen völlig entkriminalisiert hat, aber der Rest des Landes nicht, weswegen eine Gruppe junger Feministinnen namens Fondo María Frauen aus anderen Landesteilen nach Mexiko-Stadt bringt, damit sie dort abtreiben können.
An wen können sich Frauen in Ecuador wenden, die einen sicheren Abbruch vornehmen wollen?
Córdova: Es gibt ein feministisches Kollektiv namens Línea de Información Aborto Seguro, das unter der Nummer 0998301317 darüber informiert, wie man einen sicheren Abbruch mit Medikamenten durchführen kann. Die medikamentöse Abtreibung wurde vor zehn Jahren von Frauen in Brasilien entdeckt und gilt der Welt­gesundheitsorganisation zufolge als sicherste Abtreibungsform in Ländern, in denen Abtreibung illegal ist, da sie zu Hause durchgeführt werden kann. Abtreibungen mögen nach dem ecuado­rianischen Gesetz illegal sein, aber das macht sie noch lange nicht illegitim. Es handelt sich schließlich um die legitime Entscheidung jeder einzelnen Frau.