Eine Bilanz der Winterspiele in Sotschi

Spielverderber und Kosaken

Sportlich waren die Winterspiele in Sotschi für Russland ein Erfolg. Die Selbstdarstellung des Regimes fiel nicht ganz so makellos aus.

Um es vorsichtig auszudrücken: Gutes politisches Timing ist es nicht, durch das sich Olympische Spiele in der Sowjetunion beziehungsweise in Russland auszeichnen. Den Olympischen Spielen 1980 in Moskau ging der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan voraus, was zum Boykott westlicher Sportnationen führte, deren Fernbleiben vor allem die für das Großereignis präparierte sowjetische Hauptstadt empfindlich traf.
Knapp 34 Jahre später wurde trotz seiner weltweit für Empörung sorgenden homosexuellenfeindlichen Gesetzgebung von keinem Land oder nationalen Olympischen Komitee ernsthaft auch nur mit Boykott gedroht. Lediglich ein paar Staatsoberhäupter entzogen sich der Reise ans Schwarze Meer, was sicherlich nicht allein den Moralvorstellungen in russischen Politikerkreisen und den reaktionären Tendenzen der vergangenen Monate geschuldet war. Einen Ansturm von Sportfans aus aller Welt hat es nicht gegeben. Sehr viel weniger Besucher als angenommen haben sich von den russischen Verhältnissen ein Bild machen können oder gar internationale Solidarität mit diskriminierten Homosexuellen oder wenigstens lokalen Umweltschützern zum Ausdruck gebracht. Als Spielverderber erwies sich ein Nachbarland: Die Ereignisse in der Ukraine drohten zeitweise Goldmedaillen und Siegerehrungen aus den Schlagzeilen zu verdrängen. Nach der Eskalation in Kiew soll der inzwischen abgesetzte ukrainische Präsident Wladimir Janukowitsch bei seinem informellen Vorgesetzten sogar um Asyl und noch vor Ende der Spiele um eine Audienz in Sotschi gebeten haben – zu der es allerdings nicht mehr kam. Zu diesem Zeitpunkt, also Mitte vergangener Woche, war bereits knapp die Hälfte der 43 ukrainischen Sportler und Sportlerinnen aus Sotschi abgereist. Allen voran Slalomläuferin Bogdana Matsetskaja, die damit ihre Achtung vor den Protestierenden auf dem Kiewer Maidan zum Ausdruck brachte. Im IOK, dem Internationalen Olympischen Komitee, hatte man für so viel politisches Engagement kein Verständnis. Die Bitte ukrainischer Olympiateilnehmer, angesichts der Dutzenden Toten in der Ukraine mit Trauerflor starten zu dürfen, sei, so die Sportler, abgelehnt worden. Das IOK dementierte dies allerdings.
Sportlich gesehen liefen die Spiele alles andere als optimal, dennoch lag Russland am Ende im Medaillenspiegel ganz vorn vor Norwegen und Kanada. Ob damit die ganz große Enttäuschung, das Versagen der russischen Eishockeymannschaft, gemildert werden konnte, ist fraglich. Denn nicht nur die russischen Eishockey-Fans, auch die politische Führung hatte riesige Erwartungen an das Nationalteam. Zu Sowjetzeiten hatte die Auswahlmannschaft es nur bei zwei Olympischen Spielen, 1960 und 1980, nicht zur Goldmedaille gebracht, und nun sollte sie zum ersten Mal für einen russischen Olympiasieg sorgen. Der schließlich mit viel Mühe erreichte fünfte Platz kommt einer nationalen Katastrophe gleich. Experten waren von Anfang an skeptisch, denn das Zusammenspiel in der russischen Mannschaft wollte einfach nicht funktionieren. Und glaubt man den Aussagen eines der Berichterstatter der russischen Tageszeitung Kommersant, redeten die Spieler nicht einmal beim Abendessen miteinander.
Die andere große Hoffnung bei den olympischen Heimspielen, der 33jährige Eiskunstläufer Jewgenij Pljuschtschenko, musste aus gesundheitlichen Gründen seine Teilnahme im Einzelwettbewerb absagen, nachdem er beim erstmals ausgetragenen Mannschaftswettbewerb Gold gewonnen hatte. Dass er trotz bekannter Rückenprobleme und relativ schwacher Leistungen überhaupt angetreten war, machte Beobachter bereits im Vorfeld misstrauisch und ließ ein abgekartetes Spiel der Sportfunktionäre vermuten. Die Karriere von »unserem Zhenja«, dem fast unbesiegbaren Nationalhelden, sollte um jeden Preis in Sotschi mit Gold enden, am besten sogar mit Doppelgold – obwohl Ärzte gewarnt hatten, dass bei erneuter Verletzung irreversible Schäden drohen könnten. Eine Medaille bekam schließlich Adelina Sotnikowa, die erstmals in der olympischen Geschichte des Dameneiskunstlaufs Gold für Russland holte. Ihr knapper Sieg vor der Koreanerin Kim Yu-na sorgte allerdings für zahlreiche Spekulationen; südkoreanische Medien verwiesen beispielsweise darauf, dass der ukrainische Punktrichter Yuri Balkov ein Jahr lang suspendiert war, nachdem er beim Versuch erwischt worden war, den Ausgang des olympischen Eiskunstlaufwettbewerbs 1998 in Nagano zu manipulieren. Dass Punktrichterin Alla Shekhovtseva mit dem Chef der russischen Eiskunstlaufförderation, Valentin Piseev, verheiratet ist, sorgte für weiteres Misstrauen in Südkorea. Mehr als 1,5 Millionen Fans unterschrieben schließlich eine Online-Petition, mit der eine umfassende Untersuchung des Wettbewerbs erreicht werden sollte.
Im Jubel um russische Medaillen ging das Schicksal der ausländischen Bauarbeiter, ohne die keine einzige olympische Sportstätte in Sotschi existieren würde, unter. Abgeschoben und häufig nicht einmal für monatelange Arbeit entlohnt, sind sie die großen Verlierer der Spiele. Semjon Simonow, Koordinator des Memorial-Netzwerks für Migration und Recht in Sotschi, setzte sich in den vergangenen eineinhalb Jahren für ihre Belange ein und ist deshalb bei der lokalen Polizei kein Unbekannter. Während der Spiele versuchte die Kriminalpolizei zweimal ihn festzunehmen. Beide Male scheiterte dies daran, dass Simonow von ausländischen Journalisten oder Botschaftsangehörigen begleitet wurde. Beim dritten Versuch jedoch zerrten Uniformierte ihn sowie Mitglieder der Punkband Pussy Riot in einen alten Polizeiwagen und verhörten alle als angebliche Zeugen in einem Diebstahlsfall, der, wie sich später herausstellte, nicht einmal zur Anzeige gebracht worden war. »Nach meiner Weigerung, mich vernehmen zu lassen, wurde ich mit Gewalt zum Ermittler geschleppt«, sagte Simonow der Jungle World. »Mein Arm schmerzt immer noch.«
Gegen den Chef der Polizeiwache hatte er bereits im September 2013 Beschwerde wegen unmenschlicher Haftbedingungen von Arbeitern aus Usbekistan eingelegt, die unrechtmäßig und ohne Verpflegung in einer viel zu engen Zelle untergebracht worden waren. Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina von Pussy Riot waren eigentlich nach Sotschi gereist, um dort einen neuen Videoclip aufzunehmen. Bei einem Auftritt wurden sie von russischen Kosaken angegriffen. Und so singen die Frauen im Video unter den Peitschenhieben des Kosaken »Putin bringt dir bei, deine Heimat zu lieben« – Sotschi hielt neben Siegen und Niederlagen eben auch erhellende Szenen parat, denn so erhielt die internationale Öffentlichkeit endlich Kenntnis von einer nationalen Besonderheit, nämlich den »registrierten Kosaken«, paramilitärischen Hilfspolizisten, die in mancher Region des Landes ganz legal für Sicherheit und Ordnung sorgen.
Haben sich die Olympischen Spiele denn nun gelohnt? Wladimir Resin, Duma-Abgeordneter, Berater des Moskauer Bürgermeisters, ehemaliger Chef der Moskauer Baubehörde und 1980 an den Bauarbeiten für Olympia beteiligt, lobte jüngst die Qualität der Sporteinrichtungen in Sotschi. Die geschaffene Infrastruktur werde auch nach den Spielen genutzt werden, sagte er. Vorwürfe, wonach die Bauten in Sotschi überteuert seien, wies er zurück. Schließlich entfielen von den 37,5 Milliarden Euro Kosten der Spiele insgesamt nur knapp 4,5 Milliarden direkt auf den Bau olympischer Objekte: »Auf den Bauplätzen in Moskau wird eine größere Summe ausgegeben, und zwar jährlich und nicht innerhalb von fünf Jahren.« Aus dieser Perspektive betrachtet sind die Spiele in Sotschi also fast schon eine Billignummer.