Der Gesetzentwurf zur Regelung der Ghettorenten

Der Zynismus der Rentenbürokraten

Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will einen Gesetzentwurf zur Regelung der sogenannten Ghettorenten vorlegen. Vor einem Jahr scheiterte das Vorhaben noch an der damaligen Bundestagsmehrheit von Union und FDP.

Uri Chanoch hat den Holocaust überlebt. Seine Eltern, seine Großeltern und seine Schwester wurden von den Nazis ermordet. Bevor die Familie zerrissen wurde, lebte sie im Ghetto Kaunas. Dort meldete sich Chanoch für eine Stelle als Eilbote, denn die Arbeit bot ihm Schutz. Bei einer Anhörung berichtete er Bundestagsabgeordneten davon. »Wir wollten arbeiten«, sagte Chanoch, der als Vertreter des Center of Organizations of Holocaust Survivors in Israel in den Bundestag eingeladen worden war. Bei der Anhörung ging es um die Rentenansprüche der Arbeiter in den Ghettos. Doch die von Angela Merkel (CDU) geführte schwarz-gelbe Mehrheit beeindruckte Chanochs Bericht nicht. Sie stimmte im März 2013 gegen einen Antrag von SPD, Grünen und Linkspartei für die Garantie der Rentenansprüche der sogenannten Ghettoarbeiter. Knapp ein Jahr später kündigte die Bundeskanzlerin bei ihrem Israelbesuch eine schnelle Regelung der sogenannten Ghettorenten an – als wäre das eine Art persön­liches Gastgeschenk. »Viele haben darauf gewartet«, sagte sie in Jerusalem, als sei sie gerade zum ersten Mal zur Bundeskanzlerin gewählt worden. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will mit einem neuen Gesetz dafür sorgen, dass ehemalige Arbeiter aus den Ghettos endlich die Rente bekommen, die ihnen zusteht. Die deutsche Regierung zeige sehr spät Einsicht, für manche zu spät, sagte der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann. »Doch späte Gerechtigkeit ist allemal besser als vorschnelle Urteile gegen die Betroffenen.« Urteile gegen die Betroffenen hat es viele gegeben.

Was Uri Chanoch und Zehntausende andere bei dem Versuch erlebten, ihre Rentenansprüche für die Arbeit im oder in der Nähe eines Ghettos durchzusetzen, zeugt von der fatalen Unbarmherzigkeit der Bürokraten der deutschen Nachkriegszeit. Von denen waren viele Altnazis, ihre Motive für die zynische Abwehr berechtigter Ansprüche einst Verfolgter liegen auf der Hand. Was aber hat diejenigen getrieben, die seit 2002 den in der NS-Zeit in die Ghettos deportierten Menschen die ihnen vom Gesetzgeber zugedachte Renten verweigern? Die Sorge um die Rentenkassen? Rechthaberei? Eigentlich war die Sachlage eindeutig: Die rot-grüne Regierung hatte 2002 ein Gesetz verabschiedet, demzufolge Arbeitern aus den Ghettos seit 1997 eine Rente zusteht, das »Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigung in einem Ghetto«. Der politische Wille war eindeutig, aber das Gesetz hatte Konstruktionsfehler. Wer diese Rente haben wollte, musste bis zum 30. Juni 2003 einen Antrag an einen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung stellen. Das haben mehr als 70 000 Menschen getan. Die Rentenversicherer lehnten 90 Prozent der Anträge ab, mit dem Argument, die Arbeit der ins Ghetto deportierten Menschen sei Zwangs­arbeit gewesen, sie hätten nicht freiwillig gearbeitet. Deshalb sei die gesetzliche Rentenversicherung nicht zuständig – denn sie zahlt nur bei freiwillig geleisteter Arbeit, Zwangsarbeiter bekommen keine Rente. Wegen dieser offiziellen Begründung war es Chanoch bei der Anhörung im Bundestag so wichtig zu betonen, dass die Deportierten aus freien Stücken gearbeitet hätten. Anders als Zwangsarbeiter wurden die Arbeiter aus den Ghettos bezahlt. Manche erhielten Geld, andere Naturalien. Ihre Arbeitgeber zahlten fast immer Beiträge zur Rentenversicherung, was den Anspruch auf eine Rente begründet.

Die Sachbearbeiter der Rentenversicherer interessierte das nicht. Viele Antragssteller zogen wegen ihrer ablehnenden Bescheide vor Gericht. Doch die Sozialgerichte entschieden fast immer, ohne die ehemaligen Arbeiter aus den Ghettos selbst anzuhören. Von den rund 10 000 Verfahren, die es allein in Nordrhein-Westfalen gab, wurden nur in 150 die Kläger persönlich angehört. Eigene Recherchen und Anhörungen der Antragsteller hätten auch die Sachbearbeiter bei den Rentenversicherern dazu gebracht, ihre falschen Einschätzungen zu korrigieren, finden renommierte Juristen. »Eben hierzu waren die Rententräger auch rechtlich verpflichtet«, so Jan-Robert von Renesse, Richter am Landessozialgericht Essen. Seiner Vorarbeit ist ein Urteil des Bundessozial­gerichts (BSG) von 2009 zu verdanken, das das zynische Vorgehen der Rentenversicherungsträger beendet hat. Die Richter sprachen 23 818 Holocaust-Überlebenden einen Rentenanspruch zu. Sie mahnten die Rentenversicherer, den Begriff »freiwillig« großzügig auszulegen. Denn auch wenn der Aufenthalt in einem Ghetto erzwungen ist, ist nach Auffassung des Gerichts etwa die eigenständige Suche nach einer Stelle ein Indiz für die Freiwilligkeit der erbrachten Arbeitsleistung. Obwohl die Rentenversicherer offensichtlich und höchstrichterlich festgestellt falsch gehandelt hatten, bekamen die ehemaligen Ghettoarbeiter ihre Rente aber nicht rückwirkend ab 1997. Denn das deutsche Sozialrecht sieht vor, dass Ansprüche rückwirkend nur für vier Jahre geltend gemacht werden können. Aus diesem Grund zahlten die Rentenversicherer erst ab 2005.

Im Schnitt liegt die Rente für Arbeit im Ghetto bei etwa 200 Euro im Monat. Insgesamt haben Rentenversicherer mittlerweile 50 700 ehemaligen Ghettoarbeitern eine Rente bewilligt. »21 500 dieser Renten wurden wegen der Anwendung der Vierjahresregelung und 16 850 wegen versäumter Antragsfrist mit einem späteren Rentenbeginn ab 1997 gezahlt«, heißt es in einem Papier des Arbeitsministeriums. Die meisten Anspruchsberechtigten sind älter als 85 Jahre. Heute leben noch etwa 20 000 ehemalige Ghettoarbeiter, davon etwa 13 000 in Israel. Nach Angaben der is­raelischen Regierung geht es für die dort lebenden ehemaligen Arbeiter aus den Ghettos jeweils im Schnitt um 15 000 Euro, die ihnen bislang vorenthalten wurden. Das soll sich jetzt ­ändern. Unmittelbar nach ihrem Amtsantritt erklärte Nahles, es sei »ihr größter Wunsch«, dass es ihr »zügig gelingen möge, für die hochbetagten Überlebenden des Holocaust eine befriedigende Lösung bei den sogenannten Ghettorenten« zu finden. Nahles scheint Wort zu halten, Mitte Februar hat sie Eckpunkte für eine Neuregelung vorgelegt. Sie schlägt vor, die Vierjahresfrist für die Nachzahlung auszusetzen. Der Stichtag, bis zu dem der Antrag gestellt werden muss, soll entfallen. Außerdem will Nahles, dass die Ruhestandsbezüge für die ehemaligen Ghettoarbeiter aus der Kasse der gesetzlichen Rentenversicherung finanziert werden. In der Anhörung im Bundestag haben die meisten Betroffenen erklärt, dass sie eine Rente als Anerkennung ihrer Arbeit wollen, weil sie einen Anspruch auf die Leistung der Sozialversicherung haben. »In dieser Logik bewegt sich mein Vorschlag. Ich glaube, dass dies den Wünschen der allermeisten Betroffenen entspricht«, sagte Nahles der Jüdischen Allgemeinen. Damit niemand aufgrund der neuen Regelung benachteiligt wird, sollen die Ghettoarbeiter wählen können, auf welcher Rechtsgrundlage sie ihre Rente erhalten. Noch vor der Sommerpause soll das Gesetz verabschiedet werden.
Die Linkspartei traut den Willensbekundungen nicht. »Leider zeigt die Erfahrung, dass insbesondere die Union hier stark auf die Bremse tritt«, sagte der rentenpolitische Sprecher Matthias W. Birkwald. In einem Antrag fordert die Bundestagsfraktion der Linkspartei die schwarz-rote Bundesregierung auf, schnell einen Gesetzentwurf vorzulegen, damit die Betroffenen eine rückwirkende Auszahlung der Rente ab 1997 bekommen. Ulla Jelpke, Abgeordnete der Linkspartei, sagte: »Es kann nicht angehen, dass NS-Opfer, die im Ghetto schuften mussten, die Rechnung für ein Versagen der deutschen Behörden zahlen müssen.«