Berlin Beatet Bestes. Folge 232.

Einfach nur nett sein

Berlin Beatet Bestes. Folge 232. Artless: Beer Is Better … Than Girls Are/Crassdriver (1990).

Was ist bloß los mit den jungen Leuten? Reicht ihre Rebellion wirklich nur für einen Vollbart? Warum wird hier dauernd geheiratet – als wäre das nicht das Mainstreammäßigste, was es gibt? Und dann sofort Kinder kriegen und ab zum Sterben ins Umland ziehen. So kommt es mir in meinem Kreuzberger Umfeld leider zunehmend vor. Abweichende Lebensstile, für die mein Kiez einmal bekannt war, sind nicht mehr sichtbar. Überhaupt scheint hier ein junges Mittelklassemilieu zusehends in der eigenen Suppe zu kochen. Ich lerne nur noch nerdige Streber kennen, die schamlos ihre Werte verbreiten. Wenn ich so einen Vollbart-Hipster sehe, denke ich jedenfalls nur: »Ja, nächstes Jahr verkaufst du Versicherungen!«
Das obige Zitat stammt aus dem Song »When You’re My Age You’ll Be Selling Insurance« der Band Artless. Kopf und Sänger der Band war Mykel Board, der auch die monatlich Kolumne »You’re Wrong!« für das Fanzine Maximum Rock ’n’ Roll schrieb. Bereit 1982 nahm er sich darin vor, die Leser des Blattes, die radikalsten, wütendsten jungen Menschen, die es derzeit gab, die nichts mehr liebten, als den Rest der spießigen Gesellschaft zu provozieren – die Punks selbst zu provozieren. Über 30 Jahre lang blieb er diesem Vorsatz treu und beleidigte regelmäßig mit seinen diversen, höchst moralischen, aber zwischen allen Stühlen angesiedelten Positionen die Leserschaft. Als queerer New Yorker Jude war ihm eine von allen gleichmacherischen Strömungen abweichende Haltung und der damit verbundene Lebensstil selbstverständlich. Das war auch der Grund, warum Herausgeber Tim Yohannon Mykel Board ursprünglich dazu anregte, eine Kolumne zu schreiben. Es ist eine journalistische Binsenweisheit, dass das, was den einen aufregt, den nächsten freut. Auch nach dem Tod Yohannons 1998 duldete das Reaktionskollektiv die von Board regelmäßig ausgelösten Shitstorms. Der Hofnarrenstatus schien ihn unantastbar zu machen. Im Sommer 2013 wurde er dann dennoch ge­feuert. Ausgerechnet das, was seine herausragend gut geschriebenen Kolumnen überhaupt so lesenswert machte, nämlich »fehlender Respekt« dem Fanzine und der Redaktion gegenüber, wurden ihm zum Verhängnis.
Mykel Boards Kolumne habe ich 1985 zum ersten Mal gelesen und seitdem auch immer zuerst gesucht, wenn ich das MRR aufschlug. Jetzt ist da eine Lücke. Seine kompromisslos eklektischen Positionen fehlen merklich. »Entweder du sagst die Wahrheit, oder du willst nett sein. Wenn du die Wahrheit sagst, wirst du gefeuert. Wenn du nett bist, schreibst du schlecht«, hat der heute 64jährige Board einmal geschrieben. So unterhaltsam ich das beharrliche shitstirring auch finde, und so sehr es mich beeindruckt und inspiriert, mir selbst fehlt offensichtlich die Neigung dazu. Ein wirklich radikaler Hofnarr werde ich wohl nie. Ich will leider auch nur nett sein.

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.