Religion und Kultur produzieren Sexismus

Streit um die Wurzel

Die radikale Linke will sich das Thema Feminismus neu aneignen, weniger identitär und wieder staats- und kapitalismuskritischer. Übersehen wird dabei, dass es derzeit vor allem Kultur und Religion sind, die den antifeministischen Backlash befördern.

Unter dem Schlagwort »Care Revolution« versuchen Teile der radikalen Linken, den feministischen Blick auf die realen Verhältnisse zu lenken. Das hört sich erfrischend an, nachdem »radikaler« Feminismus zuletzt vor allem Unterstrich-Diskussionen hervorgebracht. Die Analyse der realen Verhältnisse fällt allerdings eher mau aus. Auch die Kritik der Gruppe TOP in der letzten Jungle World (12/2014) zeigt: Der Feminismus der radikalen Linken ist von vorgestern.
Mitte März fand die Aktionskonferenz »Care Revolution« in Berlin statt. Liest man deren Resolution, hinterlassen vor allem zwei Ansichten der Verfasserinnen Eindruck: »Früher war alles besser« und »Her mit dem omnipotenten Wohlfahrtsstaat«. So löblich es auch ist, mal wieder über Feminismus und Ökonomie zu reden, in der Analyse der Konferenz erscheint der Versuch zwanghaft, wenn die Verfasserinnen schrei­ben: »Erholung, Muße und die Möglichkeit, Gesellschaft mit zu gestalten, scheinen für immer mehr Menschen unerreichbar. Die Sparmaßnahmen, die als einzige angebliche Lösung zur Krise des Kapitalismus präsentiert werden, untergraben die Errungenschaften queerfeministischer und anderer emanzipatorischer Kämpfe.«

Mit der tatsächlichen historischen Entwicklung hat diese Behauptung schlicht nichts zu tun. Unsere Mütter mussten noch samstags arbeiten. Staubsauger und Geschirrspüler hatten die wenigsten. Mit Erholung und Muße sah es da deutlich schlechter aus als heute. Weil der Haushalt sonst kaum zu bewältigen war, wurde arbeitenden Frauen ein Haushaltstag zugestanden. Damals ging man nämlich noch selbstverständlich davon aus, dass sie alleine die Doppelbelastung von Erwerbsarbeit und Haushalt trügen. Heute streben selbst junge CDU-Politikerinnen eine faire Arbeitsteilung im Haushalt an. Weder die 40-Stunden-Woche noch die Diskussion über Neue Väter, die sich gleichverantwortlich an Erziehungs- und Hausarbeit beteiligen sollen, sind queerfeministische Errungenschaften. Sie gehen auf Kämpfe des sozialdemokratischen Mainstreams zurück, dem inzwischen fast alle etablierten Parteien anhängt. Die radikale Linke hat sich da fein rausgehalten.
Das hat die Gruppe TOP gut herausgearbeitet in ihrer Antwort auf die Care Revolution und kritisiert dann gleich die Vorschläge zur Abwendung des Übels: »In sozialdemokratischer Manier wird dann argumentiert, dass der Staat gegensteuern und seiner Verantwortung für die gesellschaftliche Reproduktion nachkommen muss.« Zwar behauptet die Care Revolution, keinen paternalis­tischen Wohlfahrtsstaat zu wollen, aber ihre Forderungen scheinen ohne ihn kaum erfüllbar: Arbeitzeitmodelle, die Sorgearbeit ermöglichen, gutbezahlte Erzieherinnen, kein Profit mit Wohnraum, kostenloser öffentlicher Nahverkehr, Freizeiteinrichtungen für Jugendliche – das alles sind staatliche Aufgaben. Der Hinweis, man könnte sie auch mit »gemeinsamen Öffentlichen« schaffen, bleibt schwammig – wie auch in anderen Texten zu sogenannten Commons, die gerne auf den Cyberspace verweisen, wo Menschen angeblich ganz uneigennützig gemeinsam etwas schaffen. Fraglos gibt es das – und Wikipedia und Linux sind auch irgendwie toll. Aber die Menschen, die daran arbeiten, bekommen eben doch irgendwoher Geld, ob direkt vom Staat oder für anderweitige Erwerbsarbeit. Das Gesellschaftsmodell, das auf »gemeinsamen Öffentlichen« aufbaut, ist leider bisher kaum plausibel.

Das Modell der Gruppe TOP ist allerdings nicht weniger schwammig. Sie will die von Sexismus befreite Gesellschaft per Kommunismus erreichen. Der soll anscheinend von Anfang an ohne Staat auskommen. So kritisiert die Gruppe an der Care Revolution: »Den Nationalstaat zu bitten, seine Politik an der sorgeökonomischen Entlastung der Einzelnen auszurichten, ist ebenso realitätsfern wie die Forderung nach einem mensch­lichen Kapitalismus. Ein radikaler Feminismus sollte deshalb nicht nur antikapitalistisch, sondern auch antinational und gegen den Staat gerichtet sein.«
»Radikaler« Feminismus sollte – so der Wortsinn – die Wurzel des Übels angreifen. Der Staat ist das jedoch fast nirgendwo auf der Welt. Nur in wenigen Ausnahmen wie in Saudi-Arabien oder im Iran trägt er zum Übel aktiv bei. Meist ist eher das Gegenteil der Fall: Staaten erlassen Antidiskriminierungsgesetze, Frauenquoten und Mutterschutzgesetze – ob im reichen Europa oder im globalen Süden. Vielfach stellen sich Staaten auf die Seite von Frauen gegen Religion und Kultur. Sie verbieten die Vielehe, bestrafen Ehrenmörder und errichten Frauenschutzhäuser auch in Ländern, wo das Schlagen von Frauen von religiösen Autoritäten befürwortet wird. Zweifellos sind Staaten nicht immer nur Vorkämpfer des Feminismus, sondern tragen zuweilen auch aktiv zur Frauendiskriminierung bei – in Deutschland etwa durch das Ehegattensplittung, das verheiratete Frauen belohnt, wenn sie sich finanziell vom Mann abhängig machen. Aber auch in diesem Fall kann man dem Staat kaum vorwerfen, dass er die Versorgerehe erfunden habe.
Was aber ist dann die Wurzel des Übels, wenn der Staat als einer der Lieblingsübeltäter der radikalen Linken ausfällt? Auch der andere Lieblingsübeltäter hat ausgedient: Der Kapitalismus hat zwar in einer bestimmten Phase durchaus von geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung profitiert. In seiner modernen Form braucht er sie aber schon lange nicht mehr, im Gegenteil: Sie stört ihn immer mehr.

Heute sind es Religion und Kultur, die Sexismus produzieren und rechtfertigen. Das gilt nicht nur für die islamische Welt. Auch hierzulande reagieren von der Gleichberechtigung verängstigte Männer mit Rückgriffen auf eine vergangene Kultur: Besonders gern bedient man sich der Steinzeit, wenn es darum geht, Verhaltensweisen als männlich oder weiblich zu qualifizieren. Männer und häufig auch Frauen überall auf der Welt sehnen sich nach klaren Rollen – nicht unbedingt, weil ihnen das Vorteile bringt, sondern weil ihnen die rasante Veränderung ihrer Welt Angst macht. Genau hier muss eine Analyse von Ökonomie und Feminismus ansetzen. Der global agierende Kapitalismus hat viele Sicherheiten aufgehoben: Arbeitsplätze können morgen woanders hinwandern. Bei starken Konjunkturschwankungen sind immer mehr Menschen prekär beschäftigt. Nicht zuletzt schert sich der multinationale Unternehmer, anders als der lokale, wenig um kulturelle Gepflogenheiten: Wenn Frauen mehr Leistung bringen, kriegen sie die Jobs und Männer werden entlassen.
Das hat einen Backlash gegen Frauenemanzipation ausgelöst, der allerdings weniger auf der ökonomischen als auf der privaten und kulturellen Ebene ausgefochten wird. Wenn schon die Welt da draußen keine klaren Strukturen mehr zu haben scheint, will man diese zumindest bei sich zu Hause erhalten oder wieder neu schaffen. Der Kapitalismus schafft die Unsicherheit, aber er ist nicht Ursache des Sexismus. Dieser falsche Kausalzusammenhang findet seine Entsprechung bei denjenigen, die Frauen wieder zurück an den Herd oder hinter den Schleier bringen wollen. Sie halten die Erosion der alten Geschlechterrollen für die Ursache, wegen derer ihre alte Welt nicht mehr funktioniert. Besonders deutlich wurde das in jüngster Zeit in Ägypten und Indien, wo junge Männer Frauen, die den alten Rollenbildern nicht entsprechen, tätlich angreifen. Diese Männer machen Studium und Beruf dieser Frauen verantwortlich für die eigene Arbeits- und Perspektivlosigkeit.

Dabei geht es den Gesellschaften insgesamt keineswegs schlechter als früher, sondern nur den Männern und das auch nur relativ zu den Frauen. De facto geht es Menschen heute in genau den Bereichen besser, die von der Konferenz »Care Revolution« als besonders mangelhaft beschrieben werden: Der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Freizeit haben sich weltweit und vor allem für Frauen deutlich verbessert. Die meisten Menschen können sich heute deutlich mehr kaufen als einst ihre Eltern – und das ist nicht nur schnöder Konsum, sondern bedeutet eben auch Freizeit und Freiheitsgewinn, wenn es sich um Kühlschränke, Staubsauger und Computer handelt.
Die Negierung dieser und anderer Fortschritte in den Texten der Aktionskonferenz und der Gruppe TOP zeigt, woran die radikale Linke seit längerem krankt: Sie ist strukturell konservativ, wohl weil ihr ein allgemeiner Weltschmerz als Lebensgefühl angenehm ist. Aber nur wer ­erkennt, wo es Fortschritte gab, kann benennen, wo noch gekämpft werden muss. Die Erkenntnis, dass nicht Kapitalismuskritik, sondern Kultur- und Religionskritik radikaler Feminismus wären, ist zugegebenermaßen nicht besonders kuschelig.