Das Theaterstück und das Buch »Hate Radio«

Das Nicht-Darstellbare darstellen

Der Theaterregisseur Milo Rau hat sich 2011 in dem Theaterstück »Hate Radio« mit dem Genozid in Ruanda beschäftigt und mit dem Radiosender RTLM, dessen Moderatoren den Genozid monatelang propagandistisch vorbereitet hatten.

Zum ruandischen Völkermord gab es zahlreiche literarische und künstlerische Versuche. Auch der 1977 geborene Schweizer Regisseur Milo Rau, der 2007 das International Institute of Political Murder (IIPM) gegründet hat und durch die Etablierung des Reenactments als politisches Theaterformat mit Stücken wie »Die letzten Tage der Ceauşescus«, »Breiviks Erklärung« und »Die Moskauer Prozesse« bekannt wurde, hat sich mit dem dokumentarischen Theaterstück »Hate Radio« dieser Herausforderung gestellt.
»Aber es gibt noch welche! Sie haben unsere Kinder umgebracht, unseren Präsidenten haben sie getötet, und sie töten sogar unsere Babys in Kigali, in Butare, in Byumba, in Kibungo, überall. Verliert sie nicht aus den Augen, überwacht sie, verfolgt sie!« Diese demagogischen Hassreden der Radiomoderatoren gegen die Tutsi-Minderheit hört man im Theater aus einem gläsernen Studio, in dem Rau eine Sendung des Sender RTLM (Radio Telévision Libre des Milles Collines) nachspielen lässt. Die Moderatoren sitzen an einem runden Tisch, fordern die Zuhörer auf, ihnen Gras zu bringen und rufen in ihre Musiksendung biertrinkend zu rassistischen Morden an den Tutsi auf. Der Radiosender ist in »Hate Radio« der zentrale Ort des Genozids. Das Programm besteht, untermalt von trashiger Musik der Band Reel 2 Real, Zouk-Musik und »Rape Me« von Nirvana, aus Nachrichten aus aller Welt, politischen Pamphleten und an Verachtung nicht zu überbietenden hate speeches und Mordaufrufen.

Milo Rau, der in seinem in über 15 Ländern 150 Mal aufgeführten Stück »Hate Radio« den Sender auf der Bühne live auf Sendung gehen lässt, macht nun in einem gleichnamigen Buch seine Quellen, seine Recherchearbeit und Interviews zugänglich. In gewisser Weise handelt es sich um ein Making Of des Theaterstückes, das nicht nur die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von »Hate Radio« rekonstruierbar macht, sondern auch die Geschichte des ruandischen Genozids anhand von Protokollen, Gerichtsakten und Zeitzeugen erzählt. Neben dem kompletten Text des Stückes finden sich in dem Buch auch Interviews, so zum Beispiel ein Gespräch mit der Radiomoderatorin Valérie Bemeriki, die eine lebenslange Haftstrafe im Kigali Central Prison verbüßt, Analysen zur ruandischen Medienlandschaft und diskursanalytische Texte zur Sprache des Genozids, zur Erfindung von stigmatisierenden rassistischen Begriffen wie »Inyenzi« (Küchenschabe, Kakerlake) und »Umwanda« (Schmutz, Unrat), mit denen gegen die Tutsi gehetzt wurde.
Was waren Raus Beweggründe, sich mit einem der grausamsten Genozide der jüngsten Zeit zu beschäftigen? »Ich wollte schon lange ein Theaterstück über Ruanda machen, die fiktionale Umsetzung empfand ich aber zuerst als unglaublich schwierig. Zuerst habe ich mich ganz klassisch anhand von Philip Gourevitchs Reportagen und Jean Hatzfelds Erzählungen von den Überlebenden und Tätern des Genozids in das Thema eingelesen. Letztendlich bin ich aber über Umwege auf den Radiosender gekommen, über die Person des Italo-Belgiers Georges Ruggiu«, erklärt der Regisseur im Gespräch mit der Jungle World.
Der belgische ehemalige Sozialarbeiter, einer der damals beliebtesten Radiomoderatoren in Ruanda, war der einzige Nichtruander, der einzige Weiße, der wegen des Genozids belangt und verurteilt wurde. »Das Radiostudio hat für mich den Genozid zum einen erzählbar, zum anderen aber auch in einem bestimmten Setting zugänglich gemacht«, sagt Rau. Das Studio, von dem es keine einzige Foto- oder Filmaufnahme gebe, zeige, »wie der Genozid im Kontext von Ruanda funktioniert hat. Es hat sich die Frage gestellt, wie man einen Genozid in ein paar Stunden erzählen kann, wie man der Darstellung des Völkermordes gerecht werden kann. Mir ging es um die direkte Atmosphäre im Studio.«
»Hate Radio« handelt aber auch, meint Rau, sehr stark von der eigenen Generation X, vom Nihilismus der postmodernen Beliebigkeit. Es geht um die Vermischung von Entertainment und Nihilismus und auch um eine Vermessung der eigenen Generation. Dorcy Rugamba, der in den ersten Aufführungen den Radiomoderator Kantano Habimana verkörperte, beschreibt im Buch in einem Text mit dem Titel »Die verwöhnten Kinder der Dritten Welt«, wie die universitäre Elite Ruandas den Genozid als eine Art Projekt verstand: »Diese Mischung aus Destruktivität, Nihilismus und dem enttäuschten Wunsch nach einer echten, erfüllenden Revolte, die eine ganze, eben die erste Nach-Wende-Generation ergreift, ist sehr zentral in ›Hate Radio‹«, wie Rau in einem im Buch abgedruckten Gespräch anmerkt.

Milo Raus Theater interessiert sich für überdeterminierte Aspekte und ambivalente Formen von Gewalt, für das labile Verhältnis des Realen und der Repräsentation, der Erinnerung und der Traumatisierung. Neben Fragen der Lust an Gewalt und Formen kollektiver Traumatisierung geht es ihm auch immer um Fragen der Meinungsfreiheit, darum, was im Namen der Demokratie sagbar sei und was nicht. Im »Zeitalter der Ideologie ohne Ideologiekritik« beschäftigt er sich mit ikonischen und universalen Ereignissen, die aber auch immer mit privaten Ereignissen verknüpft bleiben.

Milo Rau: Hate Radio. Materialien, Dokumente, Theorie. Verbrecher-Verlag, Berlin 2014, 256 Seiten, 18 Euro.