Die Kommunalwahlen in der Türkei

Erdogan meistert die Massen

Trotz aller Skandale und Affären hat die Partei des türkischen Ministerpräsidenten die Kommunalwahlen gewonnen.

Es ist ein Triumph für Recep Tayyip Erdoğan. Bei den Kommunalwahlen am Sonntag konnte der türkische Ministerpräsident erneut einen Sieg erringen. Zwar blieb seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) unter ihrem Ergebnis von nahezu 50 Prozent bei den Parlamentswahlen im Juni 2011, doch mit 45 Prozent kann Erdoğan auch zufrieden sein, wurden die Kommunalwahlen doch auch als eine Art Referendum für oder gegen Erdoğan verstanden, der nach den Gezi-Unruhen im vergangenen Sommer und nicht minder durch die Korruptionsvorwürfe im Winter politisch angeschlagen schien. Die Enthüllungen mit immer neuen Korruptionsvorwürfen und anderen höchst heiklen Affären, wie seiner Einflussnahme auf die Medien, hatten sich bis annähernd zum Wahltag fortgesetzt.
Doch in der Wahlnacht konnte Erdoğan den Spieß erneut umdrehen. Diesmal trat er nach der Wahl nicht wie früher allein mit seiner Ehefrau Emine auf den Balkon des Hauptquartiers der AKP, sondern mit der ganzen Familie. Es fehlte nur sein ältester Sohn Burak. Das ließ aber umso deutlicher hervortreten, dass sein anderer Sohn Bilal, der im Zentrum der Korruptionsvorwürfe gegen Erdoğan gestanden hatte, nun neben ihm stand.
In seiner Rede feierte Erdoğan das Wahlergebnis als Sieg über Korruptionsvorwürfe, die seiner Interpretation zufolge lediglich Angriffe auf die türkische Souveränität sind. »Ich preise Gott, denn jene, die die Türkei angegriffen haben, wurden heute desillusioniert«, sagte Erdoğan. Die Nation habe die »hinterhältigen Fallen« zerstört. Merke: Nicht vor Gericht widerlegt man Korruptionsvorwürfe, sondern durch das Votum der Wähler. Das ist im Fall Erdoğans sogar konsequent, denn die zuständigen Gerichte hat er gerade erst abgeschafft.
Uğur Gürses erklärt Erdoğans Sieg in der Zeitung Radikal damit, dass die Wähler vor allem nach ihrem Geldbeutel schauten und nach nichts sonst. Zwar hat die Türkei in letzter Zeit einige ökonomische Probleme, etwa das wachsende Defizit in der Leistungsbilanz, das sinkende Wirtschaftswachstum und den Rückgang bei den ausländischen Investitionen, aber das alles ist bei vielen Wählern bisher kaum angekommen. Das Verbrauchervertrauen ist im März sogar kräftig gestiegen. Ein weiterer Vergleich ist aufschlussreich. Bei den Kommunalwahlen vor fünf Jahren führte Erdoğan einen ähnlich intensiven Wahlkampf, es gab keine Korruptionsskandale und keine Gezi-Unruhen, aber Erdoğans AKP holte gerade mal 38 Prozent. Damals steckte die Türkei in der Folge der internationalen Bankenkrise in einer schweren Wirtschaftsflaute, die die Leute spürten, während die Analysten nicht aufhörten, die Stabilität der Türkei zu feiern.
Doch es ist mehr als nur die Ökonomie, was Erdoğan in der Türkei zum Meister aller politischen Klassen macht. Es ist auch seine Fähigkeit, die Definitionsmacht über die Ereignisse zu behalten.

Da ist zum Beispiel das Gespräch im Zimmer des Außenministers über ein Eingreifen in Syrien. Dass ein solches Gespräch abgehört werden konnte, mag ein politischer Analyst wie Cengiz Çandar in seiner Kolumne als »Staatsbankrott« bezeichnen. Doch er bleibt mit dieser Sicht der Dinge weitgehend allein.
Der Inhalt des Gesprächs hatte es in sich. Der für den Geheimdienst MİT zuständige Staats­sekretär Hakan Fidan, ein enger Vertrauter und Schützling Erdoğans, schlug vor, den Grund für ein militärisches Eingreifen in Syrien einfach zu schaffen, indem seine Agenten von syrischem Gebiet aus Raketen in die Türkei schießen oder einen Angriff auf den Grabbau eines Vorfahren der Osmanen-Dynastie, der innerhalb Syriens liegt, aber von türkischen Soldaten bewacht wird, inszenieren. Aus dem Gespräch wird klar, dass Erdoğan selbst nach einem Grund für ein Eingreifen sucht.
Doch Erdoğan bügelte das sofort ab. Weder bestritt er, das Gespräch geführt zu haben, noch ging er auf dessen Inhalt ein, sondern er reduzierte den Vorgang darauf, dass ein für die Sicherheit der Türkei relevantes Gespräch im Zimmer des Außenministers abgehört worden war. Damit der Inhalt des Gesprächs nicht allzu weite Verbreitung findet, verhängte die Aufsichtsbehörde für Rundfunk und Fernsehen RTÜK ein Publikationsverbot in den normalen Medien, während die Aufsichtsbehörde für das Internet Youtube sperrte. Twitter ist ohnehin schon gesperrt. Anstatt Erdoğan zu schaden, richtete sich die Empörung gegen seine Gegner und verdrängte nebenbei noch die Wahrnehmung weiterer schwerer Skandale in der Öffentlichkeit.
Erdoğan hat eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt, die Themen der politischen Diskussion zu bestimmen. Dabei helfen ihm die regierungshörigen Medien – und das sind mittlerweile fast alle Medien in der Türkei – zusammen mit der Justiz und den Aufsichtsbehörden. Doch es ist nicht nur dieser Apparat, der Erdoğans Stärke ausmacht, es ist auch seine Fähigkeit, den richtigen Punkt zu finden. Hinzu kommt seine Unverfrorenheit. Es gehört schon einiges dazu, die Leute, die am Grab eines von der Polizei getöteten 15jährigen protestieren, als »nekrophil« zu beschimpfen.
Sich selbst stellt der Ministerpräsident gerne als den »großen Meister Recep Tayyip Erdoğan« vor. Man mag ihn mögen oder auch nicht, aber ein großer politischer Meister ist Erdoğan sicherlich.
Bei der Opposition leckt man sich die Wunden. Es gibt viele Fälschungsvorwürfe. Dazu beigetragen haben die zahlreichen Stromausfälle just während der Auszählung der Stimmen. Die Regierung erklärte sie mit einem Wettereinbruch. Darüber hinaus wird in Istanbul von einigen Unregelmäßigkeiten berichtet, etwa, dass Wahlurnen nicht versiegelt waren oder die Polizei die für die Auszählung der Stimmen zuständigen Lehrer nicht in ein Wahllokal ließ. Doch einen weitverbreiteten Wahlbetrug dürften die Indizien kaum belegen.

Im Trubel der Wahl ging ein wichtiges Teilresultat weitgehend unter. Im Osten hat die prokurdische BDP ihre ohnehin starke Stellung weiter ausgebaut. Sie hat ihre Rathäuser verteidigt und einige Städte von Erdoğans AKP hinzugewonnen. Auch die Schwesterpartei der BDP im Westen, die vor kurzem gegründete HDP, schnitt nicht schlecht ab, ebenso ein der BDP nahestehender unabhängiger Kandidat. Die Forderung nach Autonomie für die Kurden, wie sie der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan erhebt, könnte dadurch Auftrieb bekommen.
Für Erdoğan ist die Entwicklung in den kurdischen Gebieten, da sie zu Lasten seiner Partei geht, sicher unerfreulich. Außerdem stellt sie langfristig eine schwere politische Hypothek dar. Andererseits eröffnet sie kurzfristig weiteren politischen Spielraum für Erdoğan. Er spielt mit dem Gedanken, bei der Präsidentschaftswahl in diesem Jahr anzutreten. Wenn er dies nicht selbst tut, dann ist es für ihn doch wichtig, einen eigenen Kandidaten durchzubringen. Mit einer starken BDP/HDP beziehungsweise ihrem Mentor Abdullah Öcalan könnte Erdoğan ein Bündnis schließen, um seine Wahl zum Präsidenten abzusichern. Die Opposition wäre dann wie bei der Kommunalwahl erneut gespalten. Irgendjemand muss Abdullah Öcalan auch den Floh ins Ohr gesetzt haben, er könne vielleicht schon im kommenden Jahr freigelassen werden. Von dieser Möglichkeit sprach Öcalan jedenfalls in seiner Botschaft an die Newroz-Feier in Diyarbakır.
Eine weitere schwere Hypothek ist das Verhältnis zu Syrien. In seiner Balkonrede sagte Erdoğan, Syrien befinde sich zurzeit mit der Türkei quasi im Kriegszustand. Dieser Ausdruck diente Erdoğan zwar vor allem dazu, zu unterstreichen, welch ein Verrat es gewesen sei, dass ein Gespräch im Zimmer des Außenministers abgehört wurde, in dem es um die Provokation eines militärischen Zwischenfalls mit Syrien ging. Aber Erdoğan nähert sich rhetorisch immer mehr einer Position, von der aus ein militärisches Eingreifen in Syrien möglich wird, ganz so, als wolle er nebenbei den Inhalt des abgehörten Gesprächs selbst bestätigen. Es ist typisch für Erdoğan, etwas, worüber sich alle empören, zum eigentlichen Kern seiner Politik zu erklären. Nachdem er das eine Weile mit aller Vehemenz getan hat, finden es die Leute irgendwann nicht mehr skandalös, sondern normal. Das gehört in die Reihe der Kniffe des Meisters Erdoğan.
Doch ist es leichter, Truppen nach Syrien zu schicken, als sie ohne großen Schaden wieder abzuziehen. Ähnliche Erfahrungen haben die USA in der Region ja bereits gemacht. Nur dass diese nach einem Rückzug wieder weit weg sind, während Syrien direkt an die Türkei grenzt. Der Syrien-Konflikt ist ein Beispiel dafür, dass Erdoğan im Umgang mit realen Konflikten möglicherweise nicht immer so erfolgreich sein kann wie mit der Aufbereitung der politischen Meinung in der Türkei.
In seiner Balkonrede nach der Wahl wischte Erdoğan jede Hoffnung auf eine versöhnlichere Politik weg. Diese gibt es nicht, weil jeder Kompromiss einen Verlust an Macht bedeuten würde. Genährt hatten solche Hoffnungen insbesondere kurdische Kreise, die sich im Wahlkampf vor allem gegen die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) wandten. Der kurdischen Forderung nach Autonomie erteilte Erdoğan jedoch mit der Formel »Eine Nation, eine Fahne, ein Vaterland, ein Staat« eine klare Absage.
Vor allem kündigte er die Verfolgung der Anhänger der konkurrierenden islamisch-konser­vativen Gülen-Bewegung an: »Sie werden die Rechnung bezahlen!« Bereits am Tag vor der Wahl hatte Erdoğan Strafantrag gegen den Chefredakteur und einen Redakteur der Gülen nahestehenden englischsprachigen Zeitung Today’s Zaman und drei ehemalige führende Polizisten ­gestellt. Die Finanzpolizei hat Untersuchungen gegen Firmen aufgenommen, die Gülen nahe­stehen. Man sollte nicht meinen, dass die Welle der Repression sich auf die Gülen-Anhänger beschränken wird. Hat sich Erdoğan erst einmal einen Unterdrückungsapparat geschaffen – bisher taten das für ihn weitgehend die Gülen-Leute –, wird er mit seiner repressiven Politik fortfahren. Die Formel, die aus seiner Sicht alles rechtfertigt, hat er in seiner Balkonrede nicht zu wiederholen vergessen: »Der Vorteil der Türkei steht über allem.« Und was dieser ist, bestimmt noch immer Erdoğan. Bei »Vorteil« mag anderen sein Sohn Bilal eingefallen sein, der offenbar so viel Mühe hatte, Erdoğans Geld zu verstecken (Jungle World 10/14) und auf dem Balkon neben ihm stand. Aber wegen des Wählervotums zählt diese Geschichte nicht mehr.