Die Musik der Proteste auf dem Maidan

Maidan Rocker

Die Proteste auf dem Maidan wurden begleitet von Konzerten. Eine musikalische Chronik.

Facebook, Twitter und Nachrichten, fast rund um die Uhr – ich komme in letzter Zeit gar nicht mehr dazu, Bücher zu lesen. Einige von meinen russischen Facebook-Freunden schreiben plötzlich solchen Schwachsinn, dass ich mich fragen muss, ob es tatsächlich die Menschen sind, die ich mal kannte. Ein Musikerkollege, der früher in meiner Band mitspielte, fragt mich in seiner Mail: »Ist es wahr, dass ihr Faschisten unterstützt?« Seine Frage ist ernst gemeint. Sowas macht mich verrückt, und verbittert. Ich habe nämlich Familienangehö­rige und viele Freunde vor allem im Osten, aber auch im Westen der Ukraine. Das sind Musiker, Dichter, Ärzte, Künstler, Journalisten russischer, ukrainischer, jüdischer, georgischer, aserbaidschanischer Herkunft. Auch wenn sie nicht persönlich auf dem Maidan sein konnten, haben sie die Protestbewegung unterstützt. Viele von ihnen sprechen Russisch, lachen über die vermeintliche Diskriminierung und haben ganz ernsthaft Angst vor der sogenannten Verteidigung durch den russischen Nachbarn.
Ich war im Dezember in meiner Heimatstadt Charkiw, wohnte bei meinen Schwiegereltern und traf mich täglich mit alten Freunden. Noch nie haben wir so viel über die Situation in der Ukraine diskutiert. Sogar die Unpolitischsten unter ihnen fanden das Thema wichtig und wollten darüber sprechen. Der Avantgardemusiker, der kaum seine Wohnung verlässt, wo er Albert-Ayler-Bootlegs hört und nachts mit neuseeländischen Postrockern chattet, traute sich bei den Protestaktionen nach draußen. Meine 18jährige Schwägerin half jeden Abend auf dem Charkiwer Maidan beim Teekochen und Sandwiches verteilen und zeigte uns stolz Fotos, die sie eine Woche zuvor in Kiew gemacht hatte. Ein Freund aus Uni-Zeiten kam ebenfalls gerade aus Kiew, sprach von der einzigartigen Atmosphäre der Einigkeit und gegenseitigen Unterstützung: »Woodstock, es ist unser ukrainisches Woodstock!« erzählte er euphorisch.
»Es war toll, dort zu spielen, einfach da zu sein. Im Dezember war der Maidan unter anderem ein Festival, ein großes Open Air mit einem Superpublikum. Für uns war es wichtig, dort aufzutreten, auch weil wir Klezmorim sind. Böse Zungen behaupteten nämlich, da würden Faschisten und Antisemiten stehen, wir dachten aber, dass es einfach nicht stimmen kann. Und so spielten wir jüdische Hochzeitsmusik, und die durchgefrorenen Menschen feierten und tanzten sich warm«, schreibt mir Mitya Gerasimow, der Klarinettist der Pushkin Klezmer Band aus Kiew. Ihren Auftritt kann man sich auf Youtube ansehen. Der Sound ist nicht perfekt, aber die begeisterten Reaktionen des Publikums sind klar und deutlich zu erkennen.
In diesen Tagen war die Charkiwer Ver­sion des Maidan wesentlich kleiner und ­ruhiger als die in der Hauptstadt. Zu den Veranstaltern zählte auch Serhiy Zhadan, ­einer der bekanntesten Schriftsteller des Landes. Er trat mit seiner Band Sobaki v Kosmosi auf. An einem Dezemberabend spielten wir ein Konzert zusammen. Am Ende stürmte das Publikum auf die Bühne und verlangte, dass die Band ihren jüngsten Hit, der sich über den korrupten Bürgermeister lustig macht, nochmals spiele. Es war Revolution Rock vom Feinsten und klang wie The Specials mit Wladimir Majakowski als Sänger. Ein paar Tage später spielten wir auch draußen auf dem Charkiwer Maidan. Die Band, die ich seit über 20 Jahren kenne, Papa Karlo, trug ukrainische Coverversionen der Beatles vor. Es herrschten minus fünf Grad und ich habe für dieses Konzert alle warmen Klamotten, die ich im Koffer hatte, angezogen. Auf diesem Weg habe ich kostbare Erfahrungen gesammelt, wie man bei Frost mit einer ­E-Gitarre umzugehen hat, falls ich demnächst wieder bei derartigen Temperaturen draußen spielen sollte – muss aber nicht sein.
»Keine der Bands, die in Kiew auf dem Maidan spielten, hat dafür auch nur einen Cent bekommen«, erzählte mir Volodymyr Sherstiuk von der legendären ukrainischen Ethnorock-Formation Kozak System. »Es waren nicht nur Leute aus Kiew, sondern aus allen Teilen des Landes und sogar aus dem Ausland: Polen, Russland, Weißrussland, Litauen, Großbritannien, Ungarn. Als Konzerte würde ich die Auftritte nicht bezeichnen. Es waren Momente der absoluten Einigkeit von Publikum und Musikern. So etwas erlebt man kaum bei gewöhnlichen Konzerten, das merkten alle Musiker. Klingt irgendwie pathetisch, ich weiß, aber anders kann ich es nicht ausdrücken. Punkt.« Die Songs vom Kozak System machten den Eindruck, als ob sie eigens für diese Zeit geschrieben wurden: »Bruder für Bruder« oder die überarbeitete Version des Bob-Marley-Klassikers »Get Up, Stand Up«.
Und dann … dann wurde aus Woodstock Altamont (Im Rahmen des »Altamont Free Concert« verunglückten 1969 drei Zuschauer. Ein weiterer, der Afroamerikaner Meredith Hunter, wurde von einem der als Sicherheitskräfte eingesetzten Hells Angels erstochen. Das Festival, organisiert vom Management der Rolling Stones, gilt als Symbol für das Ende der Hippie-Ära, Anmerk. d. Red.). Am 16. Januar wurden die sogenannten Anti-Terror-Gesetze verschärft, als Antwort kamen noch mehr Leute zum Maidan, es gab blu­tige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Drei Tage später spielte die Grozowska Band auf der Bühne des Maidan. »Im Publikum waren nur Frauen und müde Kämpfer mit ihren vom Ruß geschwärzten Gesichtern und schützenden Verbänden. Wir sahen von der Bühne, wie man Reifen zu den Barrikaden trug«, erzählt Grozowskas Gitarrist Constantin Bushinsky. Seine Band, bekannt für ihren luftigen akustischen Folk-Swing, stimmte einen neuen Song an, einen schrillen Blues mit dem Titel »Sumno« (traurig).
Die Ereignisse nahmen ihren Lauf und die Musik erklang immer seltener. Nicht dass die Musiker den Maidan verließen. Sie blieben da, als Bürger ihres Landes, aber die Musikinstrumente wurden zur Seite gelegt oder blieben in den Proberäumen liegen. »Wenn die Kanonen sprechen, schweigen die Musen«, wie der US-ame­rikanische Schriftsteller Truman Capote einmal gesagt hat.
Am 22. Februar erklärte das Parlament in Kiew den Prä­sidenten Viktor Janukowitsch für abgesetzt. Ob das wirklich zum erhofften Ende der Korruption und Gesetzeslosigkeit führt, werden wir erst in den kommenden Monaten sehen. Die Musiker jedenfalls kehren langsam zu ihren Instrumenten zurück. Die Frage, was die Auftritte auf dem Maidan ihm bedeuten, beantwortet Volodymyr Sherstiuk so: »Es war eine absolute Katharsis … Die Menschen vor der Bühne sahen die Künstler, die sie sonst nur aus dem Fernsehen kannten, und es war klar, dass diese Künstler sie hundertprozentig unterstützen. Für uns waren es die wichtigsten Konzerte unseres Lebens, weil sie den Menschen geholfen haben, auszuhalten.«
Am 16. März saß ich mit Serhij Zhadan in einer Bar in Berlin-Mitte. Obwohl Zhadan bei der Erstürmung der Gebietsverwaltung von Charkiw brutal verprügelt wurde, sagte er mit einem Lächeln: »Ich bin weder sauer noch verbittert.« Und dann sagte er, dass alles gut wird. Und man möchte ihm glauben.

Yuriy Gurzhy wurde in der Ukraine geboren und lebt seit 1995 als Musiker, DJ, Produzent und Radiomacher in Berlin. Seine Muttersprache ist Russisch, seine Vorfahren sind jüdischer, ukrainischer, polnischer und griechischer Herkunft. Seine Musik ist eine wüste Mischung aus Rock, HipHop, Dancehall, Reggae und Ska und nimmt Anleihen beim Klezmer und Rembetiko. Gurzhy veranstaltet gemeinsam mit Wladimir Kaminer die legendäre Reihe »Russendisko«, mit der er als DJ tourt und zahlreiche Compilations veröffentlicht (u. a. »Ukraine Do America«, Russendisko Records 2008). Er ist Mitglied des 2003 gegründeten multinationalen Emigrantski Raggamuffin Kollektiv Rotfront sowie der Band Shtetl Superstars. »17 deutsche Tänze« erscheint am 25. April auf GMO The Label.