Der NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag

Der Spion, den sie liebten

Wer im NSA-Skandal Aufklärung erwartet, braucht nicht auf deutsche Aufklärer zu hoffen. Das zeigt der Arbeitsbeginn des NSA-Untersuchungsausschusses.

Seitdem Immanuel Kant »Aufklärung« vor 230 Jahren als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« bestimmte, sind immer wieder Aktualisierungen und Neudefinitionen erschienen, die dem Begriff neue Bedeutungen spendeten, aber zu seiner mählichen Aushöhlung beitrugen. Die jüngste Hervorbringung lautet: Aufklärung ist, wenn einer »Dinge offengelegt hat, die vorher so nicht bekannt waren«. Wobei die Betonung auf dem Wörtchen »so« liegt.

Es war die Philosophische Fakultät der Universität Rostock, die vergangene Woche mit dieser Begründung der Vergabe einer Ehrendoktorwürde das Privileg der Erstpräsentation dieses diskurs- und facebook-tauglichen Aufklärungsbegriffs errang. Beim Geehrten handelte es sich allerdings nicht um jenen deutsch-französischen TV-Bildungskanal, der his vor kurzem mit dem Slogan „So habe ich das noch nicht gesehen“ sein Programm bewarb, sondern um den von der US-Justiz verfolgten Edward Snowden. Und dem sind in jüngster Zeit einige Orden an die Brust geheftet worden: von der Humanistischen Union ebenso wie von Transparency International. Erst vorigen Freitag wurde Snowden in Bielefeld mit dem »Julia-und-Winston-Award« des ortsansässigen Verein »Digitalcourage e. V.« ausgezeichnet. Julia und Winston heißen die traurigen Liebenden in George Orwells »1984« und wo das Leiden am Rechtsstaat mit Sentimentalität versüßt wird, ist Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung, literarischer Großmeister staatsbürgerlichen Gesinnungskitsches, als Laudator nicht weit.
Für Snowden können solcherlei Ehrungen, oder besser: Vereinnahmungen, in seiner derzeitigen Situation durchaus von Vorteil sein, wenn sie etwa den Verfolgungseifer seiner Häscher hemmen. Deshalb ist Snowden auch die Auszeichnung durch die Rostocker Schmalspurphilosophen zu gönnen. Dennoch bleibt deren dreiste Reduktion von Aufklärung zu einer Bereitstellung neuer Brillengläser ein Ärgernis. Wäre es nicht tatsächlich aufklärerisch, Snowdens Enthüllungen kritisch zu interpretieren? Sich mit der daraus zu gewinnenden Erkenntnis zu konfrontieren, dass die Staaten des nicht enden wollenden Spätkapitalismus ihrer von Idealisten unterstellten Fürsorgefunktion auf höchst eigene Weise nachkommen, indem sie tatsächlich alles über ihre Untertanen wissen wollen, loyalen Lippenbekenntnissen aber grundsätzlich misstrauen? Wäre nicht die intellektuelle Auseinandersetzung mit der ebenfalls durch Snowden offenbarten Rolle der sogenannten »internationalen Gemeinschaft« als Versammlung einander grundsätzlich feindlich gesinnter, höchst aggressiver und antisozialer Staatssubjekte ein zeitgemäßer »Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit«?
Doch die Beantwortung solcher Fragen wäre unzulässige Gesellschaftskritik, im Rechtsstaat mithin Extremismus. Wer diesen fürchtet, aber dennoch sich irgendwie für kritisch hält, kann beispielsweise die Tätigkeit des sogenannten NSA-Untersuchungsausschusses des Bundestages und die rhetorischen Leistungen von dessen Mitgliedern verfolgen. In einem gemeinsamen fünfseitigen Antrag hatten alle Bundestagsfraktionen gefordert, der Ausschuss möge die Telekommunikations- und Internetüberwachung »durch Nachrichtendienste der Staaten der sogenannten ›Five Eyes‹« – die zunächst auf amerikanische und britische »Dienste«, dann auf amerikanische beschränkt wurden – und eine eventuelle Zu- und Mitarbeit heimischer Ämter »klären« und dann »politische Konsequenzen« vorschlagen.

Wer Dinge sehen wollte, die er zuvor »so« nicht sah, konnte hier, abhängig vom jeweiligen persönlichen Naivitätsgrad, auf seine Kosten kommen. Wer etwa geglaubt hatte, die Regierungskoalition verfolge eine streng nationale Politik, die selbstverständlich auch die deutschen Kapital- und Militärinteressen betreffe, die Opposition aus Linkspartei und Grünen hingegen sehe das alles etwas milder, mochte manchmal stutzen. Schon am Tag vor der ersten Ausschusssitzung hatte Hans-Christian Ströbele (Grüne) die Kanzlerin sträflicher Vernachlässigung nationaler Interessen geziehen: »Wie lange will die Bundeskanzlerin noch untätig zusehen, wie angloamerikanische Geheimdienste schamlos Betriebsgeheimnisse und Mitarbeiter selbst verteidigungswichtiger deutscher Unternehmen ausspähen? Frau Merkel verletzt ihre Amtspflicht, deutsche Firmen wie auch BürgerInnen zu schützen.« Und so tönte der grün-nationale Ankläger die nächsten Tage weiter. Wem das vorher »so nicht bekannt« war, mag auf stroebele-online.de weiterlesen.
Und die Linkspartei? National bis ins Mark. In der Jungen Welt vom vergangenen Wochenende las ihr Bundestagsabgeordneter André Hahn, ebenfalls Mitglied des Ausschusses, der Regierung die Leviten: »Die Bundesregierung verhält sich wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Kein eigenständiges Agieren, kein Ausweichen und schon gar keinen Widerstand. Damit muss endlich Schluss sein. Gregor Gysi hat im Bundestag zu Recht gesagt, solange Deutschland nicht in der Lage ist, auch gegenüber den USA die Interessen unserer Bürgerinnen und Bürger wirksam zu vertreten, sind wir nicht souverän.«
Tatsächlich konnte das Verhalten der Regierungsvertreter im Untersuchungsausschuss nicht nur bei Hahn den Eindruck geringer Souveränität wecken. Die SPD, deren Politiker im Bundestagswahlkampf noch als nationale Hassprediger wider die angloamerikanischen »Absauger« von Daten und ihre willigen heimischen Helfer aufgetreten waren, verhielt sich mucksmäuschenstill. Die Union war offensichtlich überfordert. Der von ihr gestellte Ausschussvorsitzende Clemens Binninger schmiss bereits nach wenigen Tagen hin, völlig unfähig, der nachdrücklich vorgetragenen Forderung der Opposition, Snowden als Zeugen zu laden, etwas entgegenzusetzen. Und was hätte dies auch sein können? Jegliche »seriöse« Befassung könnte um eine Befragung des wichtigsten Quellenlieferanten nicht herumkommen. Deshalb wird erst einmal auf Zeit gespielt: Vor 2017, so heißt es, sei kein Abschlussbericht zu erwarten, frühestens im Juni sei mit den ersten Zeugenbefragungen zu rechnen.
Zeit spielt ohnehin eine große Rolle. Die Rückkehr der Kanzlerin von ihrem Besuch in den USA Anfang Mai soll abgewartet werden. Damit sie sich keine Rüge des transatlantischen Noch-Seniorpartners mit schlimmen politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen einhandelt, wird die nächste Sitzung des Untersuchungsausschusses auf Betreiben seines neuen Vorsitzenden Patrick Sensburg (CDU) erst am 8. Mai stattfinden. Immerhin braucht Deutschland die USA auch in geheimdienstlicher Hinsicht noch eine Weile.

Denn Anfang April erklärte der Europäische Gerichtshof die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung mit der Begründung für »grundrechtswidrig«, Daten dürften nur bei einem konkreten Verdacht auf eine konkrete kriminelle Handlung gespeichert werden (siehe Seite 16). Hier zeigte sich wieder einmal, mit welch gutem Grund solche »höchsten Gerichte« hierzulande ähnlich wie antike Orakel verehrt werden: Der Gerichtshof hat damit seinen Beitrag zur Effektivierung der Überwachung geleistet, fortan wird fleißig an der Definition und am Katalog überwachungswerter Straftaten gearbeitet. Bis anwendbare Ergebnisse vorliegen, nimmt man gern die Intelligence der ebenso geschätzten wie verabscheuten Partnerdienste in Anspruch.