Die Ghettorenten

Späte Genugtuung

So sieht »historische Verantwortung« aus: Zwölf Jahre nach dem ursprünglichen Beschluss will die Bundesregierung endlich die Ghettorenten vollständig auszahlen.

Zwölf Jahre sind eine lange Zeit. Vor allem, wenn man 70, 80 oder schon 90 Jahre alt ist. Seit zwölf Jahren warten die Menschen, die während der NS-Zeit in Ghettos gearbeitet haben, auf die Rente, die ihnen 2002 gesetzlich zugesprochen wurde. Warum? Ist das der schleichende Gang der deutschen Bürokratie? Ist der Gesetzgeber nicht in der Lage, seine eigenen Gesetze anzuwenden – oder nicht willens?
2002 hatte der Bundestag mit allen Fraktionen das »Gesetz zur Zahlbarmachung der Ghettorenten« verabschiedet. Die Renten sollten rückwirkend ab 1997 ausgezahlt werden. Viele Überlebende waren damals schon hochbetagt. Viele lebten in Israel oder in den USA. Und viele von ihnen sind mittlerweile verstorben und haben nie das bekommen, was ihnen zugestanden hätte.
Denn die deutschen Behörden lehnten etwa 90 Prozent der Anträge auf Rentenzahlung ab. Ihre Argumentation war so richtig wie zynisch: Für die Ghettoarbeit habe es kein Entgelt gegeben – nein, es gab manchmal nur ein Stück Brot extra. Die Ghettoarbeit sei nicht freiwillig gewesen – nein, aber sie bot die Chance zu überleben. 2009 entschied das Bundessozialgericht erneut und verlangte eine »großzügigere« Auslegung. Die Rentenversicherungen mussten die abgelehnten Anträge überprüfen und nun in fast allen Fällen genehmigen. Weil das Sozialgesetzbuch es so vorsah, erhielten die Ghettoarbeiter rückwirkend jedoch nur die Renten, die ihnen seit 2005 zustanden, nicht aber die Zahlungen für die acht Jahre zuvor.
Es wäre für den Bundestag ein Leichtes gewesen, diese Rückwirkungsregelung für die Ghettorenten zu ändern und die volle Auszahlung zu ermöglichen. Zahlreiche Experten forderten eine entsprechende Regelung. SPD, Grüne und Linke reichten Gesetzentwürfe ein. Doch Union und FDP weigerten sich. Mit jedem Jahr, das sie verstreichen ließen, wurde das Gesetz billiger. Nun hat sich die Große Koalition auf einen Gesetzentwurf geeinigt, der bis zum Sommer verabschiedet werden soll. »Die Bundesregierung ist sich der historischen Verantwortung für die Überlebenden des Holocaust bewusst, die in der Zeit des Nationalsozialismus unsägliches Leid erlebt haben«, heißt es dazu seitens der Bundesregierung. Von solchen häufig geäußerten Bekenntnissen zur »historischen Verantwortung« konnten sich die ehemaligen Ghettoarbeiter bislang allerdings nichts kaufen.
Geht es also ums Geld? Ja, gerade im Alter, gerade für vielleicht Pflegebedürftige kann die Auszahlung eine große Hilfe sein. Geht es um Anerkennung? Auch das. Einige 10 000 ehemalige Ghettoarbeiter dürften noch erleben, dass ihre Renten vollständig ausgezahlt werden. Es geht aber auch um die politische Auseinandersetzung. Die Jewish Claims Conference, der israelische Staat, Organisationen wie der Bundesverband für NS-Verfolgte und auch engagierte Einzelne wie der Richter Jan-Robert von Renesse haben sich in jahrzehntelangen hartnäckigen Auseinandersetzungen für die Zahlung der Ghettorenten eingesetzt. Die Bundesregierung hat die Renten nun nicht hergeschenkt, sie hat dem Druck nachgegeben. Die NS-Verfolgten und ihre Unterstützer haben diesen Druck aufgebaut und aufrechterhalten. Es ist vielleicht kein Sieg, aber zumindest eine späte Genugtuung.