Aanselm Franke im Gespräch über die Ausstellung »Forensis«

»Wir sind alle forensische Objekte«

Die Ausstellung »Forensis« im Berliner Haus der Kulturen der Welt beschäftigt sich mit den Möglichkeiten bildgebender Verfahren bei der Ermittlung, Darstellung und Bekämpfung von Machtmissbrauch. Sie fragt danach, wie sich Individuen oder unabhängige Organisationen in kritischer Absicht jener Techniken bedienen können, die traditionell der Rechtsmedizin vorbehalten sind. ­Anselm Franke hat die Ausstellung gemeinsam mit Eyal Weizman kuratiert.

Bei dem Begriff »Forensik« denkt man an eine kriminologische Disziplin. Sie sprechen von »Forensis« statt von »Forensik«. Was bedeutet diese Wortänderung? Geht es um eine Art Gegenforensik im Sinne einer Gegenöffentlichkeit?
Ich würde eher »minoritäre Forensik« sagen. Der Architekt und Theoretiker Eyal Weizman, der das Projekt Forensic Architecture kuratiert (Eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern, die Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörung und Kriegsverbrechen untersuchen; Anm. d. Red.), schlug vor, auf das lateinische »Forensis« zurückzugreifen, um die Differenz zur Staatsforensik zu markieren. Diese trat, eingebettet in ein identitäres Regime, lange Zeit vorwiegend als Gerichtsmedizin auf. Es geht zum einen darum, Forensik zu betreiben, ohne die Mittel und Ressourcen der Staatsforensik zur Verfügung zu haben, zum anderen geht es aber auch um eine implizite und explizite Kritik der Staatsforensik und der mit ihr verbundenen Ordnungsvorstellungen. Es existiert ein inhärent ambivalentes Verhältnis zur Forensik im Sinne einer Dialektik, die allen Herrschaftstechnologien innewohnt.
Forensis – im Gegensatz zu Forensik – bezeichnet den Rückgriff auf das Forum. Das Forum ist zwar ein relativ weit gefasster Begriff, der erst einmal alle möglichen Formen der Öffentlichkeit einschließt. Aber es ging uns auch darum, einen kritischen Blick auf Konzepte, wie etwa das vielzitierte »Parlament der Dinge« zu werfen, da uns eine politische Dimension an dieser Idee von Bruno Latour fehlt.
Mit Hilfe ästhetischer, wissenschaftlicher und technologischer Strategien sollen Erkenntnisse in und für den gesellschaftlichen Raum produziert werden. Geht es darum, gesellschaftliche Probleme auf eine Art und Weise zu thematisieren, die auch außerhalb des Ausstellungsraums wahrgenommen wird?
Hier wurde tatsächlich nicht nur Forschungsarbeit betrieben, sondern gleichzeitig wie eine forensische Agentur gearbeitet, die Material für Anwälte oder die UN produzierte. Damit wurde schon der rein symbolische Raum der Kunst verlassen und ein Bereich der Konsequenzen betreten. Es ging den Beteiligten darum, Werkzeuge und Begriffe für komplexe Gemengelagen zu entwickeln, die Natur, materielle Räume und politische Handlungsräume zusammenzudenken. Es ging darum, Forensik so einzusetzen, dass neue Foren entstehen oder zumindest eingefordert werden, das heißt neue Öffentlichkeiten, neue politische Verhandlungsformen.
Wie sieht die politische Intervention konkret aus?
In vielen Projekten in der Ausstellung geht es darum, Staaten für bestimmte Taten zur Verantwortung zu ziehen, insbesondere in Bereichen relativer oder faktischer Rechtslosigkeit, also Mittel zu entwickeln, mit denen Einzelne oder Gruppen heute Staaten entgegentreten können, um Recht einzufordern. Linke Politik befindet sich natürlich seit langem in einem problematischen Verhältnis zum Rechtsdiskurs. Man beruft sich oft auf das Recht als einen Ersatz für politische Visionen oder denunziert es als Herrschaftsinstrument. Die meisten Beteiligten der Ausstellung sind sich bewusst, dass das Recht nicht per se auf Seiten der Opfer des Staates steht.
Ein Großteil der staatlichen Gewalt heute findet jedoch in Schattenzonen des Rechts und jenseits der Sichtbarkeit statt und wird oft schlicht geleugnet. Daher die Bedeutung der Whistleblower, der Leaks etc. Gegen diese Politik staatlicher Negation oder Verdunkelung kann die Forensik Mittel bereitstellen. Darüber hinaus liegt das politische Potential der Forensik darin, Dinge überhaupt erst einmal zu politisieren, ein Forum zu konstruieren oder es einzufordern. Die Gewalt der Zukunft wird immer weniger eine sein, bei der sich später ein Einschussloch im Schädel mit dem Lauf einer bestimmten Pistole forensisch-kausal verbinden lässt. Die Gewalt der Zukunft wird über die Umwelt vermittelt, sie wird eine Gewalt des Milieus, des Lebensraums. Ohne Forensik lassen sich hier die politischen Verbindungen gar nicht ziehen. Das gilt natürlich auch für internationale Konzerne und Produktionsverhältnisse. Darüber hinaus kann man auch sagen, dass die Forensik in der Lage ist, eine bestimmte Negativität des modernen Staatsregimes und dessen identitäre Grundlagen zu adressieren, was spätestens in dem Moment sehr aktuell wird, wo deutlich wird, inwieweit wir alle forensische Objekte sind.
Die Ausstellung beschäftigt sich auch mit Figurationen der Justiz und der Menschenrechte und ihren Transformationen.
In der Tat ist die erste Transformation, die in der Ausstellung nachvollzogen wird, die »forensische Wende«, die sich speziell in der Aufarbeitung politischer Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen seit den Achtzigern abzeichnet. Sie ist nicht identisch mit dem Popularitätszuwachs der Forensik in den Massenmedien, eher im Gegenteil, aber sie spiegeln sich trotzdem in gewisser Hinsicht. Bis Mitte der achtziger Jahre war es im Wesentlichen der Zeuge, das Opfer oder der Überlebende, der die entscheidende Figur in der Gerichtsbarkeit solcher Verbrechen war. Die »forensische Wende« beginnt mit den Opfern der Militärdiktaturen in Südamerika: Hier sprechen nun in großem Stil die exhumierten Knochen anstelle der Zeugen. Die Identifizierung der Knochen gibt den anonymisierten Opfern ihre Identität wieder. Heute werden Massengräber auf der ganzen Welt exhumiert. Gleichzeitig wird im Gericht die Zeugenaussage immer bedeutungsloser, stattdessen sprechen die Objekte. Diese Sprache ist aber keine unkomplizierte, sondern selbst eine Frage der Vermittlung und Ästhetik.
Die zweite Transformation ist diejenige von den menschlichen Überresten zur Umwelt. Das nächste forensische Objekt sind die komplexen Zusammenhänge eines Ökosystems, durch das uns verständlich wird, was zum Beispiel der Entzug der Lebensgrundlage bedeuten kann, welche Formen politische Gewalt heute annehmen kann. Der ganze Planet wird durch den Klimawandel zu einem forensischen Objekt. Bei der nächsten Transformation ist das forensische Objekt nun der digitale Code: Das ist kein Objekt mehr, sondern die Spur im digitalen Raum, der längst ein planetarischer in seinen Dimensionen geworden ist, aber eben auch dazu führt, dass die unterlassene Hilfeleistung der Nato für ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer nachweisbar wird.
Noch einen Kommentar zur Politik internationalen Rechts und ihren Figurationen: Wir ­erleben spätestens seit der Irak-Invasion einen Legitimationsverlust des Völkerrechts, der jüngst drastisch zugenommen hat, in dem Maße, wie von immer mehr Nationalstaaten auf der Welt imperiale Ambitionen propagiert werden, und die Rhetorik eines Rechts des Stärkeren auf der Tagesordnung steht.
Ähnlich wie in der von Ihnen kuratierten Animismus-Ausstellung, die die Wiederkehr des Objekts und den Vorrang des Dings vor dem Subjekt behauptete, spielt auch in dieser Ausstellung die Belebung materieller Objekte eine wichtige Rolle.
Eine der zentralen Fragen der Ausstellung lautet: Wie wird etwas zum Rechtssubjekt oder zum politischen Subjekt. Das meinen wir hier mit »Figurationen«. Da gibt es gewisse Überschneidungen zur Animismus-Ausstellung, aber eher im Sinne einer Gegenüberstellung: Ich habe bei der Animismus-Ausstellung ja versucht, nicht das belebte Ding ins Zentrum zu stellen, sondern die historischen Prozesse und Techniken, die Idee und Realität des »unbelebten Objektes« zum materiellen Realitätsprinzip erhoben, und damit in der politischen Praxis erst bestimmte Formen des Entzugs von Subjektstatus und Leben ermöglicht haben, was sich umgekehrt symptomatisch in medientechnologischen Obsession mit der Animation und Subjektivierungsprozessen spiegelt und es noch heute tut.
Sicher geht es bei beiden darum, bestimmte schematische Denkweisen von Subjekt-ObjektVerhältnissen im Sinne von Vernetzungen oder Assemblagen neu zu denken. Ich gehöre aber nicht zu denjenigen, die Objekte mit quasi messianischen Fähigkeiten ausstatten wollen, als könnten sie uns von der verfahrenen Situation, die nun unter klassischen Subjekten herrscht, erlösen. Assemblagen von Materialitäten und Subjekten sind ein wichtiges analytisches Territorium, aber immer nur, um falsche Wahlmöglichkeiten zu verhindern und politische, aber auch ästhetische und anderweitige Handlungsfelder abzustecken, und darin zählen letztlich Subjekte, welcher Art auch immer.
Die Ausstellung erkundet nicht nur die Geschichte und Gegenwart der Forensik, sondern widmet sich auch der forensischen Prognostik.
Das ist die jüngste Transformation, die Anwendung der Forensik auf die Zukunft: Im Krieg gegen den Terror werden die Opfer von Drohnenangriffen nicht für das getötet, was sie ­getan haben, sondern was sie bestimmten Berechnungen zufolge tun werden, die Grund­lage dafür sind früher erhobene Daten, also forensische »Erkenntnisse«, Wahrscheinlichkeiten und Algorithmen. Ähnliches geschieht beim Klimawandel durch die Modellierung der Zukunft aus den Daten der Vergangenheit, aber natürlich auch in allen anderen Bereichen der Risikokalkulation.

Forensis. Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Bis 5. Mai