In der Partei Alternative für Deutschland brodelt es

Alter Narzissmus, neue Kränkungen

Im Zuge des Europawahlkampfs häufen sich bei der Alternative für Deutschland die programmatischen und personellen Auseinandersetzungen. Dabei werden auch die Konturen der Partei und ihrer Klientel deutlicher.

»Was haben das dicke koreanische Kind und die EU gemeinsam?«, fragt der Wolfsburger Kreisverband der »Alternative für Deutschland« (AfD) auf einem Wahlplakat mit dem Konterfei des nord­koreanischen Diktators Kim Jong-un. »Das Demokratieverständnis«, lautet die Antwort, die nach den Worten des Parteivorsitzenden Bernd Lucke eine »satirische Überspitzung« sei.
Welche Klientel sich vor der Europawahl am 25. Mai in der AfD unter Wahlkampfparolen wie »Washington spioniert. Brüssel diktiert. Berlin pariert.« oder »Gender, Gurken, Größenwahn. Brüssel stoppen! Jetzt.« versammelt, wurde in den vorigen Wochen deutlich. In Dresden besuchte ein lokales Vorstandsmitglied der AfD den »Europakongress« der »Jungen Nationaldemokraten«. Noch 2013 hatte er laut Zeitungsberichten an den »Trauermärschen« der Neonazis teilgenommen. Zum stellvertretenden Vorsitzenden wählte die AfD-Nachwuchsorganisation »Junge Alternative« ein Mitglied der Münchner Burschenschaft Danubia, das zuvor durch rassistische Schmähungen aufgefallen war. Die Rücktritte kamen erst durch öffentlichen Druck zustande. Wie die AfD, die jedes Störmanöver im Wahlkampf als linksextremistischen Angriff auf die Meinungsfreiheit darstellt, mit kritischen Berichterstattern umgeht, zeigte sich jüngst an der Journalistin Andrea Röpke. Während eines Wahlkampfauftritts von Lucke in Bremen setzte der Saalschutz die Expertin für die extreme Rechte sowie einen Fotografen der Taz mit rüden Methoden vor die Tür.

Vor der Europawahl werden die politischen Konturen der AfD deutlicher, die vielerorts programmatische und personelle Auseinandersetzungen führt. Spektakuläre Rücktritte wie der der parteiintern vielfach angefeindeten ehemaligen Pressesprecherin Dagmar Metzger waren zuletzt keine Seltenheit. Offenkundig hat das »Mut zu Deutschland« fordernde Motto der AfD eine magnetische Wirkung auf die Wiedergänger der Romanfigur Diederich Heßling aus Heinrich Manns »Der Untertan«. Schrille Parolen und Personalien verstellen jedoch den nüchternen Blick auf den derzeitigen Charakter der Gesamtpartei. Die AfD ist eine Partei altbürgerlichen Typs.
Die Wähler der AfD kamen bei der Bundestagswahl im September 2013 vor allem von der FDP und aus dem Lager der Nichtwähler. Unter den Mitgliedern finden sich zahlreiche Akademiker sowie Angehörige des Mittelstands. Auf der Funktionärsebene ist die AfD die Partei der nationalkonservativen und ordoliberalen Fraktion des deutschen Bürgertums. Zentrales Feindbild ist das wirtschaftspolitische Krisenmanagement von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die Spitzenkandidaten zur Europawahl wie der Hamburger Ökonom Lucke, der ehemalige Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Olaf Henkel, sowie die rechtskonservative Netzwerkerin Beatrix von Storch (»Zivile ­Koalition«) repräsentieren mit unterschiedlichen Akzenten den Mainstream der Partei.
Die AfD kann dem von Forsa im Auftrag von Stern und RTL erstellten Wahltrend zufolge mit sechs Prozent der Stimmen rechnen, Tendenz steigend. Der Erfolg der Partei speist sich nicht zuletzt aus Ohnmachtsgefühlen gegenüber den politischen Entwicklungen seit Ausbruch der Euro-Krise. Doch die soziokulturellen Gründe liegen tiefer. Ein zentrales Protestmotiv ist die mehrfache narzisstische Kränkung jenes liberal-konservativen Bürgertums, das sich nicht nur als Leistungselite wähnt, sondern auch einen wertegebundenen Lebensstil verteidigt. Dieser scheint so verloren wie die Besitzstände der deutschen Herzogtümer seit der Bodenreform in der ehemaligen DDR. Statt einen ehrbaren Kaufmann im Sonntagsstaat erhielt dieser Teil des Publikums seit Beginn der Kanzlerschaft von Angela Merkel im Jahre 2005 vorzugsweise Kabinette, die auch unter Schwarz-Gelb wie ein Patchwork der Minderheiten wirkten. Mit Merkel, Guido Westerwelle (FDP) und Philipp Rösler (FDP) war der Sozial­typus von »Otto Normalabweicher« (Jürgen Kaube) auch in der Regierung des bürgerlichen Lagers angekommen.
Dagegen regt sich Protest. Manche dieser Zeitgenossen, die sich zwecks Verteidigung der AfD in den Internetforen, den Leserbriefspalten oder öffentlichen Versammlungen austoben, wirken in ihrer enthemmten Wut wie die empirische Bestätigung der These einer »Entkultivierung des Bürgertums«, die der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer formuliert hat.

Dieses Milieu sucht schon lange parteipolitisches Asyl, zumal unter Merkel der nationalkonserva­tive Flügel der Union arg gestutzt wurde. Es waren deshalb vor allem Altkonservative wie der aus der hessischen Union stammende Alexander Gauland und der ehemalige FAZ-Redakteur Konrad Adam, die den Gründungsprozess der AfD prägten. Adam gehört neben Lucke und der sächsischen Unternehmerin Frauke Petry zu den Vorsitzenden der Partei.
Die Klage über den Verlust traditioneller bürgerlicher Lebensstile ist ein Grund für den Erfolg der AfD. Am stärksten richtet sich der Protest jedoch gegen Merkels »alternativloses« Regime des Sachzwangs, das nicht dem von Henkel und anderen präferierten Lehrbuch der guten wirtschaftspolitischen Ordnung folgt. Der Lehrsatz der Regierungen unter Merkel lautet: Souverän ist, wer die Systemrelevanz bestimmt. Dies provoziert den erzbürgerlichen Widerstand. Denn im idea­lisierten ökonomischen Modell der bürgerlichen Gesellschaft haftet der Unternehmer mit seinem Eigenkapital und seinem persönlichem Risiko. Der Konkurs war für diese Kapitalfraktion immer auch eine individuelle Tragödie. Der Senator Buddenbrook, die anachronistische Figur des Bürgertums, verfügte über keinerlei Rettungsschirm. Er ging zugrunde.
Die AfD reagiert auf die Widersprüche im herrschenden Lager. Zwar entsprach die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland nie der reinen Lehre. Der »rheinische Kapitalismus« war jenseits des sozialdemokratischen Keynesianismus immer auch geprägt von der korpora­tistischen Herrschaft der Verbände. Und schon unter Adenauer wurde das »freie Spiel der Kräfte« von sozialliberalen Maßnahmen wie der Rentenreform oder der Montanmitbestimmung eingeschränkt. Auch der Bauernstand, eine dezimierte Säule des deutschen Konservatismus, verdankt seine Existenz nicht dem Markt, sondern hohen Subventionen. »Frei« war die Marktwirtschaft in Deutschland nie – dass wissen auch jene professoralen Volkswirte in der AfD, die sich wie der verbeamtete Volkswille gerieren.

Neu ist dagegen die Verlagerung der Entscheidungskompetenzen an Institutionen wie die sogenannte Troika und den »Europäischen Stabilitätsmechanismus« (ESM), deren Imperative die Macht der nationalen Parlamente unterlaufen. Gerade der Euro, der universelle Migrant in den einst nationalen Währungssystemen, ist nicht nur für diese Kritiker das materielle Symbol intransparenter EU-Netze und der Krise des Nationalstaats. Diese Kritik findet auch bei ehemaligen Wählern der Linkspartei Zuspruch.
Im laufenden Wahlkampf verzichtet die vielfach als rechtspopulistisch oder nationalchauvinistisch bezeichnete AfD auf jene kulturkämpferischen Töne, die etwa in Österreich, Frankreich und den Niederlanden die Debatte prägen. Ideologische Reizthemen wie »Islamisierung« und der Bau von Moscheen fehlen im Programm zur Europawahl. Dieses Papier ist geprägt vom Duktus der Ökonomen. Der Appell an die Affekte findet sich beim Thema »Gender Mainstreaming«. Programme unter diesem Namen sollen abgeschafft werden. Die christliche Rechte um Beatrix von Storch hat damit einen zentralen Programmpunkt untergebracht. Ansonsten werden die länglichen Ausführungen zu Eurobonds, ESM, ESFM, EFSF und Troika auf die sprichwörtlichen Wutbürger eher wie ein Narkotikum wirken. Im Vergleich mit den europäischen Rechtspopulisten wirkt die AfD noch moderat.
Unter dem calvinistisch inspirierten Ökonomen Bernd Lucke changiert die AfD zwischen reputierlichem Kathederliberalismus und einer rechtspopulistischen Kulturalisierung der Krise, die in der ungleichen »Arbeitsmoral« der Nationen einen zentralen Grund für die unterschiedlichen Entwicklungsgrade in Europa sieht. Für klassische Rechtsparteien eher untypisch sind dabei die Forderungen nach Niederlassungsfreiheit, Arbeitnehmerfreizügigkeit und einem Recht auf Arbeit für Flüchtlinge.
Die einwanderungspolitischen Positionen der AfD vermeiden jeden völkischen Rassismus. Die Partei sortiert Zuwanderer nach Nützlichkeitskriterien – und spitzt somit Positionen zu, die auch bei der bürgerlichen Konkurrenz in der Union und FDP formuliert werden. Die AfD treibt mit ihrer Kritik an der EU schon jetzt die CSU vor sich her. Ähnliches kann in England beobachtet werden, wo der konservative Premierminister David Cameron von der »United Kingdom Independence Party« (UKIP) und ihrem Vorsitzenden Nigel Farage (siehe Interview Seite 20) unter Druck gesetzt wird.

Die AfD wird im Europawahlkampf von zwei Tendenzen geprägt, die Ende März im Kölner Maritim-Hotel sichtbar wurden. Die »Junge Alter­native« hatte Nigel Farage zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen und mit herzlichem Beifall empfangen. Auf dem Podium saß mit Marcus Pretzell auch ein Mitglied des Bundesvorstandes der AfD. Lucke hatte die Veranstaltung als Affront gewertet. Er strebt auf europäischer Ebene eine Kooperation mit den Tories an.
Sollte Spitzenkandidat Lucke bei den Europawahlen unter den Erwartungen bleiben, wird sich der parteiinterne Streit weiter zuspitzen. In Sachsen hat sich die AfD bereits jetzt als dezidiert »konservative Volkspartei« konstituiert. Das kulturkämpferische Programm für die kommenden Kommunal- und Landtagswahlen liest sich wie die satirisch überspitzte Broschüre einer evangelikalen Kampftruppe. Die »Förderung der so­genannten Gender Studies« an Universitäten sei einzustellen, heißt es da beispielsweise. Die ­Partei warnt vor »serieller Seichtbelletristik« und fordert zudem »Verpflichtende Sprachkurze (sic!) auf hohem Niveau für alle Einwanderer, die Sozialleistungen beziehen«.
Sollte die Partei also auf dem Weg nach Europa wider Erwarten ins Straucheln geraten, steht hier schon eine Avantgarde für den radikalisierten »Sächsischen Weg« der AfD bereit.