Der Streit um Hamburgs Gefahrengebiete

Eine Oase für Sheriffs

Der Hamburger Senat möchte aus dem Debakel um die Gefahrengebiete, zu denen mehrere Stadtteile im Januar von der Po­lizei erklärt worden waren, keine juristischen Konsequenzen ziehen. Nun haben Betroffene der Polizeimaßnahmen Klage vor dem Verwaltungsgericht eingereicht.

Ob sich die Hamburger Polizeiführung in der Vergangenheit bereits mit sozialpsychologischen Fragestellungen beschäftigt hat, weiß niemand. Doch seit der Einrichtung eines »polizeilichen Gefahrengebiets« am 4. Januar, das erst neun Tage später wieder aufgehoben wurde, dürfte sich die Polizei in Hamburg mit dem Begriff der kognitiven Dissonanz auseinandergesetzt haben. In der Sozialpsychologie sind damit Symptome gemeint, die aus inneren Konflikten resultieren, wie sie etwa auftreten, wenn eine begonnene Maßnahme schwieriger wird als erwartet oder aus einer Überzeugung heraus eine Fehlentscheidung getroffen wurde. Beides ist eingetreten. So sprach die US-amerikanische Botschaft wegen des ausgewiesenen Gefahrengebiets eine Reisewarnung für Hamburg aus und die überregionale Presse bewertete die polizeiliche Anordnung als unverhältnismäßig. Mit potentiell über 80 000 betroffenen Menschen, die in der Kontrollzone wohnen, waren nicht wie in der Vergangenheit nur Autonome, Randständige oder Sexarbeiterinnen tangiert. Und so formierte sich ein breiter Protest gegen das Gefahrengebiet, der sich wachsender Zustimmung der Öffentlichkeit erfreute. Die Klobürste avancierte nach einer Personenkontrolle, bei der eine solche beschlagnahmt worden war, zum Symbol des Widerstands.

Gerechtfertigt wurde die Einrichtung der Kontrollzone vor allem mit einem angeblich geplanten Angriff durch Autonome auf eine Polizeiwache in St. Pauli im Dezember 2013, bei dem ein Polizist schwer verletzt wurde. Recherchen eines Rechtsanwalts und von Journalisten ergaben jedoch, dass ein gezielter politisch motivierter Angriff auf die Wache nie stattgefunden hat. Entsprechend wurde die Aufhebung des polizeilichen Gefahrengebiets durch die Polizei zu Recht als Niederlage des SPD-Senats und der Polizeiführung gewertet. Seit 2005 existiert in Hamburg die Möglichkeit, Gefahrengebiete einzurichten, geregelt ist sie in Paragraph 4 des Gesetzes »Über die Datenverarbeitung der Polizei«. Demnach kann die Polizei eigenständig und ohne richterliche Anordnung Gebiete deklarieren, in denen sie ohne Anlass und verdachtsunabhängig »Personen kurzfristig anhalten, befragen, ihre Identität feststellen und mitgeführte Sachen in Augenschein nehmen« darf. Sie ist befugt, Platzverweise, Ingewahrsamnahmen und längerfristige Aufenthaltsverbote zu verfügen.
Damit besteht ein Ausnahmerecht, das die in der Strafprozessordnung definierten Grenzen der Rechte der Polizei erheblich erweitert. Dort sind die Befugnisse an das Bestehen eines konkreten Verdachts für eine Teilnahme an einer Straftat beziehungsweise einer unmittelbar bestehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gebunden.

Gesetzgeberische Konsequenzen jedoch soll das Debakel nicht haben. Hamburgs Innensenator Michael Neumann (SPD) hoffte stattdessen darauf, die Sache aussitzen zu können. Angesichts eines im April veröffentlichten Rechtsgutachtens des Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz, Johannes Caspar, und seines Stellvertreters, Hans-Joachim Menzel, dürfte dieses Kalkül allerdings nicht aufgehen. Beide haben in ihrem Gutachten die vom 4. bis zum 13. Januar eingerichteten Gefahrengebiete in Teilen von Altona, St. Pauli und der Sternschanze einer datenschutz- sowie verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen. Ihr Resümee lautet, dass der Prozess der Ausweisung des Gefahrengebiets verfassungsrechtlichen Kriterien nicht Stand halte. Tatsächlich kann die Polizei aufgrund eigener Lageerkenntnisse Gefahrenlagen behaupten, auf deren Basis dann nachrichtendienstliche Mittel zum Einsatz kommen, ohne dass es einer unmittelbar bevorstehenden Straftat bedurft hätte, die aufgeklärt beziehungsweise verhindert werden sollte.
Bei vielen Grundrechtseingriffen sind durch das Gesetz weder die Beteiligung von Richtern noch Mitteilungen an Betroffene vorgesehen. Ohne den Richtervorbehalt oder eine Mitteilungspflicht für Betroffene entzieht sich polizeiliches Handeln jeder juristischen Kontrolle und Überprüfung. »Es handelt sich bei derartigen Maßnahmen um schwerwiegende polizeiliche Eingriffe, da die Polizei in den Gefahrengebieten ermächtigt ist, die sich darin aufhaltenden Personen weitgehend verdachtsunabhängig zu kontrollieren«, sagte Caspar unmittelbar nach der Aufhebung der Gefahrengebiete Anfang des Jahres. Die zeitliche Dauer und die Größe des ausgewiesenen Gefahrengebiets müssten dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. Diese Überprüfung wiederum machten die Auswertung der der Ausweisung zugrunde liegenden polizeilichen Lageerkenntnisse erforderlich, stellte Caspar klar. Doch genau dies sei nicht gewährleistet. So heißt es im Gutachten: »Die im Antrag zur Ausweisung des Gefahrengebiets durch die Polizei vom 3.1.2014 dokumentierten Lageerkenntnisse werfen Zweifel auf.« Sowohl die gesetzliche Bestimmtheit wie auch die Verhältnismäßigkeit von Gefahrengebieten hält der Datenschutzbeauftragte für zweifelhaft.

In über 40 Fällen sind in den vergangenen acht Jahren im Hamburger Stadtgebiet Gefahrengebiete ausgerufen worden. In der Vergangenheit gab es jedoch keine nennenswerten Proteste. Bei der Maßnahme im Januar wurden 993 Personen kontrolliert, doch die Öffentlichkeit bewer­tete die Gefahrengebiete im Hinblick auf ihre enorme Ausdehnung kritisch. Zumal die Ausbeute ziemlich bescheiden war. Es wurden Seitenschneider, Draht, Klebeband, Kleister und Farbspray­dosen beschlagnahmt. Weiterhin wurden Plastiktüten, ein Plastikeimer und ein Zelt einbehalten. Erfasst wurden außerdem eine unbekannte Anzahl an WC-Bürsten, Küchenkräuter sowie eine »Haushaltsrolle in Alufolie eingewickelt, innen ein Zettel mit der Aufschrift: ›Peng‹«.
Diese Funde sind nicht geeignet, derart weitreichende Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung im Nachhinein zu rechtfertigen. Dies wiegt umso schwerer, als das Hamburgische Gesetz »Über die Datenverarbeitung der Polizei« weitreichende Möglichkeiten zur Datenerhebung eröffnet, die bisher noch gar nicht öffentlich thematisiert wurden. Demnach darf die Polizei unter anderem durch den Einsatz technischer Mittel zum Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Wortes Erkenntnisse sammeln. Formal ist diese Maßnahme erst zu beenden, wenn sie nicht innerhalb von drei Tagen von einem Richter bestätigt wird. Das bedeutet, dass die Polizei drei Tage lang ohne richterlichen Beschluss beispielsweise Telefone abhören darf. Unterbricht sie alle drei Tage die Maßnahme für 24 Stunden, könnte die Hamburger Polizei theoretisch über Jahre Abhörmaßnahmen ohne jede richterliche Kontrolle durchführen. Es bleibt also noch viel zu tun für den Hamburger Datenschutzbeauftragten. Ein Fall für die Gerichte werden die Gefahrengebiete auf ­jeden Fall. Ende ­April reichten 16 von Kontrollen Betroffene Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der im Januar durchgeführten Maßnahmen beim Verwaltungsgericht ein.