Darf ein Kind mit Down-Syndrom aufs Gymnasium?

Elite statt Gemeinschaft

Darf ein elf Jahre alter Schüler mit Down-Syndrom das Gymnasium besuchen? Ein Fall aus Baden-Württemberg sorgt mittlerweile bundesweit für Diskussionen. Er zeigt, dass das vielgliedrige Schulsystem in Deutschland noch immer eines schont – das Gymnasium.

Der Fall des elfjährigen Henri aus Walldorf in der Nähe von Heidelberg ist schnell erzählt. In einem Modellversuch zur Inklusion durfte Henri die örtliche Grundschule besuchen. Er hat das Down-Syndrom, früher hätte man ihn als geistig behindert bezeichnet. Doch er hat schulischen Erfolg, sagten seine Eltern im Gespräch mit der FAZ. Sie wollen nun, dass das gemeinsame Lernen für ihren Sohn auch nach der vierten Klasse fortgesetzt wird. Und zwar nicht irgendwo, sondern an dem Schultypus, der in Deutschland für Tradition, höhere Bildung, Zugang zu Karriere und Erfolg steht: dem Gymnasium. Doch dieses stellt sich nun in dem kleinen baden-württembergischen Ort quer.
Die Lehrer und die Leitung des Walldorfer Gymnasiums fühlen sich überfordert mit der Inklusion eines Schülers mit Down-Syndrom. Sie haben dem Wunsch der Eltern nicht entsprochen. Ende Februar sprach sich die Lehrerkonferenz gegen den Inklusionsversuch aus, im April kam die Schulkonferenzaus Vertretern von Eltern, Schülern und Lehrern, zum gleichen Ergebnis. Der Fall schlägt mittlerweile bundesweit Wellen.

Die Befürworter der Aufnahme Henris geißeln die Schule als rückschrittlich. Seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch den Bundestag im Jahr 2009 besteht ein Rechtsanspruch auf inklusive Bildung. Die Gegner, da­runter der baden-württembergische Philologenverband, argumentieren, dass ein Gymnasium von der Grundanlage her auf Leistung, Abitur und Stoffvermittlung angelegt sei. Und dass die Beschulung des Elfjährigen eher den Eltern nütze als dem Jungen selbst, also nicht im Interesse des Kindes liege. Die Eltern sind vom Gegenteil überzeugt. Zwar ist ihnen auch klar, dass Henri nicht das Abitur machen wird, sie möchten ihm aber seine Grundschulfreunde erhalten. Ein Freund der Familie hat eine Online-Petition initiiert, die den baden-württembergischen Kultusminister Andreas Stoch (SPD) auffordert, den Schulversuch Henris zu ermöglichen. Binnen kurzer Zeit schlossen sich rund 20 000 Menschen dieser Forderung an. Doch wenn man einen Blick auf die derzeitige Verfassung des deutschen Bildungssystems wirft, ist in der Tat fraglich, ob Henri sich an dem Walldorfer Gymnasium wohlfühlen wird. Der Fall zeigt in aller Deutlichkeit das Dilemma der Inklusion. Diese wird in allen Bundesländern vornehmlich für die Grundschulzeit geplant. Danach sind die Haupt-, Stadtteil-, Ober- und andere Schultypen dran mit dem Inkludieren – nicht jedoch das Gymnasium. Um die Behinderten können sich die Schulen für untere oder mittlere Begabung kümmern, das Gymnasium ist quer durch die Republik fein raus. Es wurde schlichtweg ausgenommen von der Inklusion. Wer später Elite in Deutschland will, muss – polemisch gesprochen – Störungen möglichst minimieren.

Den Bundesländern geht nach und nach auf, dass das Gymnasium eine Sonderrolle einnimmt. So möchte Nordrhein-Westfalen die Gymnasien gern zu einer Mindest-Inklusionsquote verpflichten, doch die sperren sich auch dort. Bei aller Berechtigung der sozialen Inklusion ist diese Weigerung im Interesse des Kindes von Seiten der Gymna­sien angesichts der personellen Lage durchaus verständlich. Man muss sich ganz real einen elfjährigen Jungen mit Down-Syndrom oder anderer Behinderung im Fachunterricht Englisch vorstellen, im Deutschunterricht mit Gedichtinterpretationen und im Chemieunterricht bei der Berechnung der Molmasse. Er säße – bei der derzeitigen Ressourcenausstattung für die Inklusion – oft schlichtweg daneben. Als einziger Schüler mit Behinderung in einer Klasse wird die Sache nicht besser.
In Hamburg hat sich eine Journalistin gerade in einem Artikel offen für die Beschulung ihres behinderten Sohnes an einer Sonderschule ausgesprochen. Sie wollte ihm gerade das »Dabei­sitzen« ersparen und bemängelt die »Gleichmacherei« der Inklusion. An einer – in Deutschland leider undenkbaren – Schule für alle sähe die Sache eventuell anders aus. Aber auch an einer solchen Traumschule bräuchte man den Mut und die personellen Ressourcen, die Lerngruppen nach Neigungen oder Begabungen zeitweise zu trennen. Ohne das Schreckgespenst der Segre­gation. Doch solange am Gymnasium als elitärem Ort festgehalten wird und keine erheblichen Mittel für die Inklusion bereitsgestellt werden, tun die Eltern von Henri wahrscheinlich nicht schlecht daran, ihrem Sohn die ermüdenden Interpreta­tionen von Schillers Glocke zu ersparen.