Die Repression gegen die Opposition in Ägypten

Es kann noch dunkler werden

Das autoritäre ägyptische Regime geht noch härter gegen Streikende und die verbliebenen linken Oppositionsgruppen vor. Die islamistischen Muslimbrüder werden mit Hunderten von willkürlichen Todesurteilen in den Untergrund gezwungen.

Am 28. April kommentierte der ägyptische Menschenrechtler, Journalist und Publizist Bassem Sabry auf Twitter: »Wenn alle ihren Verstand verloren haben, wie soll der Einzelne dann wissen, ob er seinen noch besitzt?« Zwei Tage später starb der erst 31jährige Sabry bei einem Sturz vom Balkon seines Büros. Die verbliebenen kritischen Aktivisten und Intellektuellen Ägyptens erlebten nach finsteren Tagen der ägyptischen Justiz und Politik auch noch einen Tag des persönlichen Verlusts, sie trauerten um eine ihrer letzten wahrnehmbaren und integren Stimmen. Sabry sei »in diesem ganzen Irrsinn charakterfest geblieben«, sagte Heba Morayef von Human Rights Watch, sein Verlust komme zu einer Zeit, in der »man denkt, es kann nicht noch dunkler werden«.
Am 28. April waren 492 Todesurteile gegen Mitglieder und Unterstützer der islamistischen Muslimbruderschaft in lebenslange Haftstrafen umgewandelt, 37 Todesurteile bestätigt und 683 neue Todesurteile verhängt worden. Den meisten Angeklagten war die Teilnahme an Demonstrationen und Ausschreitungen vorgeworfen, ihre Verteidigung war behindert oder nicht zugelassen worden. Die Beweisführung war hanebüchen. Die Muslimbruderschaft, die während ihrer Herrschaft selbst den gewalttätigen Sicherheitsapparat gegen die Opposition eingesetzt hatte, ist in den vergangenen Monaten Opfer staatlicher Repression geworden. Seit die Protestlager der Organisation unter exzessiver Gewaltanwendung geräumt und dabei weit über 1 000 zumeist unbewaffnete Demonstranten getötet wurden, sind mehr als 10 000 ihrer Unterstützer inhaftiert worden – die meisten von ihnen wegen Verstößen gegen das sogenannte Demonstrationsgesetz.

Auch zahllose Linke, die oftmals entscheidende Rollen in der oppositionellen Bewegung gegen Hosni Mubarak und das islamistische Regime unter Mohammed Mursi gespielt haben, standen und stehen im Fokus des Sicherheitsapparats und des »tiefen Staates«. Das Demonstrationsgesetz, das jegliche unabhängige Kundgebungs- und Demonstrationsversuche kriminalisiert, dient auch hier als Werkzeug, um wichtige Oppositionelle mit fragwürdigen Verfahren hinter Gitter zu bringen. Beispielhaft ist ein Vorgang in der Metropole Alexandria. Mehrere Menschenrechtler und eine Anwältin wurden wegen der Teilnahme an einer »illegalen« Versammlung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, weil sie während des Prozesses gegen die uniformierten Mörder Khaled Saids der Einladung von dessen Mutter zu einer friedlichen Kundgebung vor dem Gericht gefolgt waren. Die Versammlung war von der Polizei angegriffen worden. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit hatte auch Sabry zuletzt sarkastisch kommentiert: Den 2011 gestürzten autoritären Herrscher Mubarak ließen sie »wie einen fortschrittlichen Reformer« aussehen.
Das Urteil von Alexandria steht für das Scheitern der »ägyptischen Revolution«, wie der aufgrund von Massenprotesten durch das Militär ­erzwungene Rücktritt Mubaraks in Ägypten oft bezeichnet wird. Die Ermordung Saids durch Polizisten im Juni 2010 gilt als einer der zentralen Auslöser der Jugendproteste, die zu den Massendemonstrationen und Unruhen des Jahres 2011 führten. Ein Foto seines durch brutale Gewalt entstellten Gesichts wurde zum Symbol des Widerstands gegen den ägyptischen Polizeistaat. Organisiert vor allem über soziale Netzwerke wie die Facebook-Gruppe »Wir sind alle Khaled Said«, kulminierten die Proteste am 25. Januar 2011, dem »Tag der Polizei«, auf dem Tahrir-Platz in Kairo.

Entscheidend für den Erfolg der »Revolution des 25. Januar« waren aber auch die Beteiligung von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie Angestellten und eine spontane landesweite Streikwelle. Die von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfond (IWF) konzipierten und unter Mubarak teilweise durchgesetzten »Strukturanpassungsmaßnahmen« hatten für einen großen Teil der Beschäftigten spürbar negative Konsequenzen. Immer häufiger war es in den Jahren zuvor bereits zu spontanen illegalen Streiks gekommen, mit denen bessere Arbeitsbedingungen gefordert wurden oder auf Entlassungen im Zuge von Privatisierungen reagiert wurde.
Der bedeutendste Arbeitskampf vor 2011 war der Generalstreik der Spinner und Weber in Mahalla al-Kubra im April 2008. Dieser war umfangreich von jungen Oppositionellen unterstützt worden, die sich in der Bewegung »Jugend des 6. April« zusammenschlossen. Diese Gruppe mit Tausenden Mitgliedern und Zehntausenden Sympathisanten war in den vergangenen Jahren die vielleicht größte organisierte linke Oppositionsbewegung Ägyptens; sie hatte entscheidenden Anteil an der Mobilisierung und Koordination nicht nur von Protesten gegen Mubarak, sondern auch gegen das Militär und die Muslimbrüder. Die neue Verfassung wurde von ihr ebenso kritisiert wie das repressive Demonstrationsgesetz und die chauvinistische Propaganda, die nur noch »Ägypter« und »Terroristen« kennt. Nun wurden die Gruppe und alle ihre Aktivitäten wegen »Spionage« und »Diffamierung des Staates« verboten. Schon zuvor waren Anführer der Gruppe wie Ahmed Maher und Mohammed Adel ebenso wie zahlreiche andere Aktivisten zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden – wegen »Zusammenrottung« und in mehreren Fällen auch wegen angeblicher, von der Staatsanwaltschaft nicht bewiesener Angriffe auf Polizeibeamte.
Zudem geht das Regime auch gegen Streikende immer härter vor. Die Angestellten im öffentlichen Dienst hatte die Übergangsregierung im Januar vorläufig ruhiggestellt, indem sie für diese ­einen monatlichen Mindestlohn von umgerechnet 125 Euro beschloss. Doch seitdem fordern auch Beschäftigte außerhalb des öffentlichen Sektors vehement die Geltung dieses Mindestlohns für ihre Branchen. Bis zu 70 Prozent der Postan­gestellten legten etwa im März landesweit ihre Arbeit nieder, woraufhin mehrere Streikführer verhaftet wurden. Kurz zuvor war ein Sit-in im Gebäude der staatlichen Gewerkschaft ETUF gewaltsam aufgelöst worden. Gleichzeitig gab es Streiks unter anderem im Transportbereich und in der Ärzteschaft.
Bereits im Februar war es zu einem Streik von bis zu 50 000 Beschäftigten der staatlichen Textilindustrie gekommen. Mehrere Belegschaften demonstrierten für die Renationalisierung ihrer Betriebe – Gerichte hatten manche der im Rahmen von IWF-Strukturanpassungsprogrammen erfolgten Privatisierungen und Verkäufe unter Wert für ungültig erklärt. Den Zahlen des Zentrums für ökonomische und soziale Rechte (ECESR) zufolge fanden allein im ersten Quartal des Jahres insgesamt 249 Arbeiterproteste statt, darunter über 60 Streiks. Die meisten Demonstrationen und Arbeitskämpfe sind verknüpft mit der Kritik an Korruption und Missmanagement sowie der Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen, Jobgarantien und einem nationalen Mindestlohn von 125 Euro, der nach jahrelanger Inflation angesichts der erheblich höheren Nahrungsmittel- und Energiepreise allerdings selbst kaum zum Überleben reicht. Mehr als die Hälfte der ägyptischen Bevölkerung lebt an oder unter der Armutsgrenze.

Das Militär, eine der größten ägyptischen Kapitalfraktionen mit diversen eigenen Firmen und Fabriken, trat in den Konflikten häufig als vorgeblich neutraler Vermittler auf. Gleichzeitig waren Militäreinheiten auch unmittelbar an polizeilichen Maßnahmen gegen Streikende beteiligt. Vorige Woche etwa waren Einheiten der Dritten Feldarmee an der gewalttätigen Auflösung des Dockarbeiterstreiks im Hafen von Ain Sochna am Roten Meer beteiligt, bei der auch Tränengas eingesetzt wurde. In einigen Fabriken wurden Streikende von Schlägerbanden mit Hunden und Messern bedroht, etwa beim multinationalen Agrarkonzern Cargill. Der staatliche Gewerkschaftsdachverband ETUF, der als korrupt und regimehörig gilt, ist untätig. Immer mehr lohnabhängig Beschäftigte haben sich in den vergangenen Jahren aber den größtenteils neugegründeten unabhängigen Gewerkschaften angeschlossen, auch wenn die Mehrheit noch immer in keiner Weise organisiert ist und Streiks deshalb oft spontan auf lokaler Ebene entstehen und die Forderungen begrenzt bleiben. Lediglich kleinere NGOs wie das ECESR, dessen Büros zuletzt im Dezember von Zivilpolizisten verwüstet worden waren, unterstützen die Arbeiterinnen und Arbeiter organisatorisch und juristisch.
Derweil gehen im ganzen Land die Vorbereitungen für die Präsidentschaftswahlen am 25. Mai weiter. Eine absolute Mehrheit wird an diesem Tag Abd al-Fattah al-Sisi zum Präsidenten des Landes wählen, den seit einigen Wochen in Zivil auftretenden mächtigsten Mann des ägyptischen Militärs. Seit den Wochen rund um die Entmachtung des islamistischen Regimes unter Mohammed Mursi herrscht eine von Personenkult und Nationalismus geprägte Massenhysterie. Überall sieht man die »dritte Hand« des »Auslands«, die reale Terrorwelle rechnet man fälschlich der Muslimbruderschaft zu, das Versagen im Antiterroreinsatz im Sinai kompensiert man mit der Behauptung, es gebe eine internationale islamistische Verschwörung, in der die Hamas und die Hizbollah gemeinsam die Strippen zögen.
Auch antiisraelische Hetze wird von allen Seiten gern betrieben – die Muslimbruderschaft unterstellt dem Regime, für Israel zu arbeiten, das Regime erhebt ähnliche Vorwürfe etwa gegen die Jugendbewegung »6. April«, die den Spieß wie­derum umkehrt. Nebenbei gibt es auf den meisten Kanälen und in den meisten staatlichen und privaten Zeitungen pure Propaganda, Kritiker werden diffamiert. Überall stößt man auf den »starken Mann«, den »großen Führer«, den »Retter« – es gibt Sisi-Gebäck, Sisi-Aufkleber, Sisi-Poster und Sisi-Kissen. Sein einziger Konkurrent, Hamdeen Sabahi, ein »Linksnasserist«, ist chancenlos. Seine Kampagne ist allerdings der letzte Ausdruck von oppositioneller Kritik in der ägyptischen Öffentlichkeit. Auch al-Sisi wird letztlich insbesondere an den ökonomischen Problemen des Landes scheitern. Doch nicht erst dann, sondern schon nach seinem Sieg in drei Wochen drohen der ägyptischen Opposition und streikenden Beschäftigten düstere Zeiten.