Nationalismus in der EU

Mehr Nation, weniger Europa

Auch bei der Wahl zum Europäischen Parlament stehen nationale Belange im Vordergrund.

Kinga Gál und József Szájer haben recht eigenwillige Vorstellungen von der Überwindung der Grenzen in der Europäischen Union. Die beiden Kandidaten der ungarischen Regierungspartei Fidesz verkündeten am 1. Mai, dass auf ihrer Liste für die Wahl zum Europäischen Parlament auch »Vertreter aller Regionen mit ungarischen Gemeinschaften außerhalb der Landesgrenzen« stünden, die Abgeordneten also auch die »Ungarn« in den Nachbarstaaten repräsentieren.
Obwohl Wladimir Putin hinreichend deutlich gezeigt hat, wohin der Anspruch führen kann, angebliche Staatsbürger außerhalb der Landesgrenzen zu vertreten, kann die Fidesz einmal mehr auf die Solidarität oder zumindest das Stillschweigen der Parteifreunde von der Europäischen Volkspartei (EVP) rechnen, zu der auch CDU und CSU gehören. Nur wenn es ums Vaterland geht, hört der Spaß auf. Als Silvio Berlusconi »Mehr Italien, weniger Deutschland« plakatieren ließ und deutsche Sozialdemokraten sich in pat­riotischer Empörung ergingen, sah sich die CDU zu einer Distanzierung genötigt.
Politiker der CDU/CSU, bei denen der Anteil an Rechtspopulisten vergleichsweise gering ist, erwähnen die zuweilen etwas schmuddeligen europäischen Schwesterparteien ungern öffentlich. Es fragt ja auch kaum jemand nach, gewählt werden die Konservativen in allen Ländern ohnehin als Vertretung des jeweiligen »nationalen Interesses« in Europa. Welches Interesse das ist, bleibt umstritten. An sogenannten Euro-Skeptikern fehlt es auch unter deutschen Konservativen nicht und in Großbritannien sind sie so zahlreich, dass die Tories die EVP-Fraktion verließen.
Doch bei den Konservativen wird nur am deutlichsten, dass es weiterhin keine europäische Öffentlichkeit gibt. Andere Fraktionen bemühen sich, eine europäische Politik wenigstens zu simulieren und sie mit den Wahlen in Verbindung zu bringen. Doch die Institutionen sind für eine demokratische Politik gar nicht vorgesehen. Dass die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament nun den Präsidenten der EU-Kommission stellen soll, gilt bereits als Schritt zur Demokratisierung. Weiterhin aber fehlen dem Parlament Haushalts- und Gesetzgebungsrecht, in der Außenpolitik hat es keine Befugnisse. Die Entscheidungen werden mit den von den nationalen Regierungen besetzten Institutionen getroffen, ein bewusst undurchsichtig gehaltenes System, das in der Praxis Deutschland als stärkster Wirtschaftsmacht die Führung verschafft hat. Ändern lässt sich das auf parlamentarischem Weg kaum, zudem hat der Lissabonner Vertrag zahlreichen wirtschaftsliberalen Regeln de facto Verfassungsrang gegeben.
Ob als Wohlstandschauvinismus in den reicheren Ländern oder als völkische Reaktion auf die Austeritätspolitik in den ärmeren – fast überall in Europa verbreiten sich nationalistische Ressentiments, auch unter Liberalen und bei manchen linken Gruppen. Auflösbar ist der Widerspruch zwischen Nationalismus und Integration nicht, denn die Staaten der EU stehen weiterhin in ökonomischer Konkurrenz zueinander und ihr Fortbestand wird vom Lissabonner Vertrag garantiert. Inmitten einer keineswegs überwundenen Wirtschaftskrise und unfähig zu demokra­tischen und sozialen Reformen ist unklar, wie lange die EU diese Spannung aushalten kann.