Die Krise in Venezuela ist noch nicht gelöst

Sozialismus oder Klopapier

Die ökonomische Krise in Venezuela hält an, der Protest auf der Straße ebenso. Trotz einer Annäherung zwischen Opposition und Regierung ist keine Lösung in Sicht.

Venezuela ist weiterhin gespalten. Am 1. Mai gingen in der Hauptstadt Caracas ein weiteres Mal sowohl Anhänger als auch Gegner der Regierung von Nicolás Maduro zu Tausenden auf die Straße. Seit Beginn der Auseinandersetzungen im Februar ist die Situation fast unverändert. Die Heftigkeit der Proteste, in denen sich der Wunsch der antikommunistischen Oberschicht nach ökono­mischen Reformen mit der Unzufriedenheit der Durchschnittsbevölkerung angesichts von In­flation, Güterknappheit und Gewaltkriminalität mischt, hat in den vergangenen Wochen zwar abgenommen, ein Ende ist aber ebenso wenig in Sicht wie eine Lösung der Probleme. Offiziellen Angaben zufolge sind während der Proteste bisher 41 Menschen gestorben, über 700 wurden verletzt, es gab mehr als 2 600 Festnahmen. Knapp 200 Personen sitzen noch immer in Haft.

Mittlerweile reden Opposition und Regierung wieder miteinander, schon dreimal gab es einen runden Tisch mit Vertretern der Regierungsparteien sowie des Oppositionsbündnisses »Mesa de Unidad Democratica« (MUD), das 40 Prozent der Sitze im Parlament innehat. Der »Friedensdialog« unter Beteiligung von Vertretern der Union Südamerikanischer Staaten (Unasur) sowie des Vatikans scheint die Spannung im Land ein wenig verringert zu haben. Gemischte Arbeitsgruppen beschäftigen sich nun mit der Aufarbeitung der Gewalt der vergangenen Monaten, einem möglichen Amnestiegesetz sowie der kommunalen Verwaltungsstruktur. Aufgrund der Kritik am gewalttätigen Vorgehen von Polizei und Militär hat die Regierung bereits gegen fast 100 Angehörige der Sicherheitskräfte Verfahren eingeleitet. Teile der Opposition lehnen den Dialog jedoch grundsätzlich ab und bezeichnen die Teilnahme am runden Tisch als Verrat. Sowohl die Studierendenvereinigungen als wichtiger Akteur der Proteste als auch der radikale Flügel um den inhaftierten Oppositionspolitiker Leopoldo López wollen nicht reden, sondern die Krise nutzen, um mit dem Sozialismus light in Venezuela endgültig aufzuräumen. »Mit Gesprächen stürzt man keine Diktatur«, lautet derzeit ein beliebter Slogan jener vorrangig rechten oppositionellen Kräfte. Statt auf Verhandlungen setzen diese weiterhin auf die sogenannten guarimbas, meist brennende Straßenblockaden, die vorrangig in wohlhabenden Stadtvierteln errichtet werden.
Parallel zum Dialog versucht die Regierung, mit einer »neuen ökonomischen Offensive«, die anhaltenden wirtschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen. Sie soll die Produktivität steigern, den Mangel an Gütern und Nahrungsmitteln verringern sowie die Einhaltung der festgesetzten Höchstpreise sicherstellen. Am vergangenen Wochenende waren im ganzen Land Inspekteure im Einsatz, die die Einhaltung des »Gesetzes der gerechten Preise« überwachen sollen. Es schreibt eine maximale Gewinnspanne von 30 Prozent vor, um dem »Irrsinn des spekulativen und parasitären Kapitalismus« Einhalt zu gebieten, wie es Präsident Maduro ausdrückte. Zugleich hat er eine Erhöhung des Mindestlohns um 30 Prozent angekündigt, was angesichts einer Inflationsrate von derzeit 60 Prozent jedoch nur wenige zufriedenstellen wird. Ein neues Wechselkurssystem soll zudem die Spekulation mit Devisen eindämmen, eines der großen Probleme der venezola­nischen Wirtschaft. Bisher konnte man auf dem Schwarzmarkt für Devisen bisweilen das Zehn­fache des staatlich festgelegten Wechselkurses bekommen.

Abgesehen von den ökonomischen Reformen führt die Regierung ihr desaströses Krisenmanagement fort. Sie führte eine Anmeldepflicht für Demonstrationen ein und macht auch weiterhin für alle Probleme ausländische Verschwörungen und die »faschistische Opposition« im eigenen Land verantwortlich. Seit Beginn der Proteste hatte die Regierung ebenso wie ihre Unterstützerinnen und Unterstützer im In- und Ausland von einem Putschversuch imperialistischer Kräfte gesprochen. Ende März verkündete Maduro dann die Festnahme von drei Generälen der Luftwaffe, die in Zusammenarbeit mit oppositionellen Kräften einen Staatsstreich geplant hätten. Mittlerweile wurden 30 Angehörige der Streitkräfte verhaftet. Die Regierung zeigt bisweilen einen erstaunlichen Einfallsreichtum, um den bösartigen Charakter der Opposition zu beweisen. Umweltminister Miguel Rodríguez warf Ende März im Staatsfernsehen den Demonstrierenden vor, sie würden die Umweltzerstörung als politische Waffe benutzen, und verwies auf das Holz, das zum Bau von Barrikaden verwendet wurde. »Für die 5 000 Bäume, die sie dafür gefällt haben, werden wir eine Million neue pflanzen«, verkündete der Minister kämpferisch. Darüber hinaus seien Pläne der Opposition aufgedeckt worden, Hunde mit Bombengürteln bei Demonstrationen von Regierungsanhängern einzusetzen sowie das Trinkwassernetzwerk der großen Stadt Mérida im Westen des Landes zu vergiften, behauptete er. Auch die großen ökonomischen Probleme des Landes seien in erster Linie die Folge des »Wirtschaftskriegs«, der gegen Venezuela geführt werde, wie die Regierung unermüdlich betont.
Bei der Bekanntgabe der jüngsten, erneut äußerst schlechten Wirtschaftszahlen machte die Zentralbank die Proteste für die anhaltende Knappheit an Lebensmitteln und Grundbedarfsgütern verantwortlich – obwohl eben jene Probleme erst der Auslöser für die Proteste waren. Die gleiche Taktik wird auch bezüglich der Gewaltkriminalität angewendet. Als vergangene Woche Eliezer Otaiza, ein Wegbegleiter von Hugo Chávez und hoher Funktionär der Regierungspartei PSUV, Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, war für die Regierung sofort klar, wer dahinter steckte: Der Mord sei aus Miami in Auftrag gegeben worden, von Kreisen, die früher in Venezuela die Macht hatten. Dahinter stecke der Versuch, das Land zu destabilisieren und ein weiteres Beispiel für die angeblich hohe Kriminalität zu liefern, wie Maduro in seiner Ansprache zum 1. Mai erklärte. Ob sich so auch die weiteren 4 000 Morde, die sich jedes Jahr in Caracas ereignen, erklären lassen, ließ er offen. Stattdessen beschwerte er sich wieder einmal über Manipulationen und Lügen in der Berichterstattung.

Es ist fraglich, wie lange sich Maduro mit dieser Mischung aus Arroganz gegenüber gesellschaft­lichen Problemen und Verschwörungstheorie noch halten kann. Denn damit verärgert er auch seine Basis immer mehr. Ein Fernsehspot, der Mitte April zum ersten Jahrestag seines Amtsantritts veröffentlicht wurde, zeigt ihn als gefeierten Helden der Bevölkerung, unterlegt mit Musik aus »Superman«. Nicht nur die Opposition machte sich über den Superhelden-Trailer lustig, auch seine Anhänger waren verstört. »Fliegt er gleich weg?« fragte eine Kommentatorin auf dem chavistischen Internetportal aporrea.org.
Die große Frage, ob der »Sozialismus« in Venezuela auch ohne den Comandante überlebensfähig ist, scheint sich langsam aber sicher von selbst zu beantworten. Selbst der ehemalige Berater von Chávez, Heinz Dieterich, der den Begriff »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« geprägt hat, gibt Maduro keine Chance mehr. In einem Interview mit dem Spiegel erklärte der deutsche Soziologe Anfang März, dass Maduros Politik »unweigerlich das Ende der bolivarianischen Ära« bedeute: »Die Po­litik muss um 180 Grad gewendet werden, sonst geht alles verloren.« Zwar hat Maduro bereits länger als die von Dieterich vorhergesagten acht Wochen durchgehalten – aber wer weiß, wie lange noch.