Regenwälder als Mangelgebiete

Leben im Mangelwald

Die Regenwälder werden oft mit biologischem Reichtum in Verbindung gebracht, dabei sind sie Mangelgebiete. Und menschenleer sollten sie auch nicht unbedingt sein.

Fast alle Nachrichten und Berichte über den Zustand der großen Regenwälder in Afrika, Südamerika und Asien drehen sich um ähnliche Themen: Die Wälder seien Refugien der Artenvielfalt, in denen Hunderttausende immer noch unbestimmter Pflanzen und Tiere leben, deren Verlust auch deshalb den Menschen sehr schade, weil man nicht wissen könne, wie viele für die Medizin segensreiche Stoffe die Pflanzen bergen. Außerdem seien die Wälder riesige Umsatzgebiete von Wasser und anderen Stoffen, die für den Erhalt und die Stabilität des Erdklimas von immenser Bedeutung seien. Und obwohl das niemand bestreite, gingen die Abholzungen in den Regenwaldregionen in unverminderter Geschwindigkeit weiter, was natürlich nicht gut sei.
Trotz der Unbestreitbarkeit dieser Aussagen kann einen bei der Lektüre der Nachrichten ein Unbehagen befallen, das vor allem mit der Verwendung des Wortes »Reichtum« zusammenhängt. So wie der Begriff im Zusammenhang mit den Pflanzen und Tieren in den Regenwäldern verwendet wird, wird immer noch seine Bedingung ausgeblendet: der extreme Mangel.

Die großen zusammenhängenden Regenwälder Amazoniens und des Kongobeckens zeichnen sich durch einen extremen Nährstoffmangel aus und die in ihnen umgesetzten Stoffe bewegen sich fast ausschließlich in geschlossenen Kreisläufen. Was die Regenwälder hervorbringen, wird sofort wieder in den Kreislauf eingespeist, um es zu verbrauchen. Sie sind also keine Überschussproduzenten, sie zehren nur von dem, was sie selbst andauernd umsetzen. Und daraus resultiert auch der vielzitierte Artenreichtum. Die teilweise hochspezialisierten Arten sind als Reaktion auf die in unterschiedlichen Ausmaßen auftretenden Mangelverhältnisse entstanden. Auch deshalb sind die im Dschungel vorkommenden Arten in den seltensten Fällen in großer Zahl vorhanden. Der Artenreichtum der Wälder wird bedingt durch eine Individuenarmut innerhalb der jeweiligen Art.
Wenn man sich im Regenwald bewegt, kann er einem auch deshalb über weite Strecken als dünnbesiedelter und verlassener Raum erscheinen. Mit der Dichte bunter Vögel, wie sie in einer Voliere im Zoo zu sehen sind, hat der Wald jedenfalls nichts zu tun. Das sind natürlich keine neuen Erkenntnisse in der Ökologie, sie fehlen in keinem Lehrbuch. Herumgesprochen haben sie sich dennoch kaum, wie man nicht nur an den Medienberichten zur Lage der Regenwälder sehen kann. Das hängt damit zusammen, dass die Erzählungen um die Wälder immer noch von den Berichten der Entdecker, Naturforscher und Kolonisatoren des 19. Jahrhunderts bestimmt werden.
So sind zum Beispiel die Beschreibungen Amazoniens von Alexander von Humboldt und dem Zoologen Henry Walter Bates immer noch in einem Punkt prägend, nämlich in der Interpretation der überbordenden Vielfalt und immensen Geschwindigkeit der Lebensprozesse in den Tropen Amazoniens. Humboldt wie Bates hatten sich, auch durch ihr poetisches Talent angestachelt, von der tropischen Vielfalt insofern blenden lassen, als sie sie für den Ausdruck eines schier unendlichen, natürlichen Reichtums hielten, den die Zivilisation nur bändigen müsse, um ihn in ihren Dienst zu stellen. Damit hatte vor allem Humboldt einen der immer noch folgenschwersten Irrtümer über die Wälder und Flüsse Amazoniens in die Welt gesetzt: Die Artenvielfalt und die wirklich unfassbare Produktivität dieser Tropen basiere auf Reichtum und nicht auf extremen Mangel – auf äußerst nährstoffarmen, dünnen Böden. Dass es der natürliche Mangel ist, der den Artenreichtum hervorbringt, konnte man zu Humboldts Zeiten noch nicht wissen, aber zumindest in der Beschreibung des tropischen Lebens hätte man sich mit fiebrigen Visionen über die letzten noch zu entdeckenden Reichtumsregionen der Menschheit zurückhalten können. Denn angenehm war der Aufenthalt im Regenwald für Humboldt, Bates und die anderen Entdecker und Forscher des 19. Jahrhunderts in der Regel nicht und er ist es heute für die meisten Menschen immer noch nicht.

»Die Grenzen der Zivilisation bieten selbst dem, der sich ihnen unvoreingenommen nähert, nur selten ein freundliches Gesicht«, schreibt der Ethnologe Philippe Descola im ersten Satz seiner 2011 auf deutsch erschienen Studie »Leben und Sterben in Amazonien«. In den trostlosen Siedlungen der fast unberührten Gegenden am Rand der Regenwälder spielt sich für Descola ein realer Grenzkonflikt von weltweiter Bedeutung ab. Hier sind seit einem Jahrhundert eine Handvoll kleiner indigener Gruppen dem Ansturm derer ausgesetzt, die sie aus dem Wald vertreiben wollen, um sich diesen einzuverleiben. Es sind arme Bäuerinnen und Bauern auf der Suche nach einem Stückchen Land, aber auch mächtige Viehzüchter und Plantagenbesitzer, Gold- und Edelsteinsucher und multinationale Konzerne, die es auf Erdöl, Tropenhölzer und Bodenschätze abgesehen haben. Eine Konstellation also, die, wenn der Kampf weitergeht, keinen Zweifel daran lässt, wer ihn gewinnen wird.
In Descolas Buch erscheinen aber nicht nur diejenigen, die sich vom Wald beziehungsweise der Eroberung des Waldes neue Reichtümer versprechen, sondern auch die Menschen, die im Wald leben. Der Regenwald wird dadurch nicht nur zu einem Naturereignis. Er wird zum Anderen in jeder Beziehung. Und es gab und gibt immer noch gute Gründe, gerade in Amazonien nach dem Anderen der westlichen Kultur zu suchen. Claude Levy-Strauss hatte die Indigenen dieser Region vom Status der Primitiven befreit, die auf einer von uns längst überwundenen früheren Kulturstufe steckengeblieben seien. Die indigenen Bevölkerungen hatten eine ebenso lange Geschichte hinter sich wie die »westliche Zivilisation« und dass deren Vertreter glaubten, die Indigenen veränderten sich nicht oder wollten sich nicht verändern, hatte einfach damit zu tun, das keine Zeug­nisse ihrer Geschichte übertragen wurden. Die Indigenen haben in ihrer Geschichte einfach auf anderes Wert gelegt, und um diese Entscheidungen weiter treffen zu können, haben sie sich, so Levy-Strauss’ Vorstellung, immer weiter in die Wälder zurückgezogen. Deshalb ist Amazonien nicht Westafrika oder Südasien. Die dortigen indigenen Bevölkerungsgruppen sind nicht segmentiert, nicht nach Kasten und nicht nach Ordnungsprinzipien der Eroberer neu zusammengesetzt worden. Sie sind nicht auseinandergerissen oder durch Sklavenhandel zwangsweise vermischt worden. Sie haben weder ein Nomadenleben am Rande endloser Handelswege geführt, noch haben sie strenge, auf Funktionsteilung beruhende politische Hierarchien kennengelernt; und vor allem sind sie, bis auf einige Missionsversuche, nicht in den Bann der expandierenden Weltreligionen geraten. Sie gelten teilweise heute noch als das Andere in jeder Form.

Wie sehr dieses andere Leben mit den Wäldern verbunden ist, beschreibt unter anderem das Buch »Raubzug auf den Regenwald« von Lukas Straumann über die letzten Nomaden im malaysischen Regenwald in Sarawak auf der Insel Borneo. Der Untertitel lautet »Auf den Spuren der malaysischen Holzmafia«. Die Holzmafia leitet ein Unternehmer, der es vom Provinzpotentaten von Sarawak zum Milliardär gebracht hat. Im Kurznamen heißt er Taib und herrscht mittlerweile über ein weltweit agierendes Konsortium von Holzunternehmen, das von Asien bis auf die australische Insel Tasmanien mit dem Abholzen von Regenwaldbäumen gute Geschäfte macht. Aber so detailliert die Untersuchungen zu Verbindungen und Geschäften auch recherchiert und dargestellt sind, machen sie nicht das Besondere des Buches aus.
Die Studie bettet die aktuelle Lage in Sarawak in eine sehr genaue Beschreibung der Kolonialgeschichte und die mit ihr verbundenen naturwissenschaftlich-geographischen und ethnologischen Erzählungen, die die Wahrnehmung bis heute bestimmen. Der Autor ist Geschäftsführer einer Schweizer Stiftung, die sich vorrangig für den Erhalt der Lebensräume der letzten Regenwaldnomaden auf Borneo, der Penan, einsetzt. Indem Straumann die Wälder Borneos im Spiegel der Gegenwart der Penan beschreibt, wird deutlich, dass diese Wälder und die Nomaden zusammengehören. Beim Schutz der Regenwälder geht es also nicht nur um einen Kampf gegen die Zerstörung von Natur, sondern auch um den Kampf um eine Lebensweise, die die Unterscheidung von Kultur und Natur nicht kennt. Es handelt sich bei den Wäldern um Formen, die in jeder Beziehung außerhalb der herrschenden Wachstumslogik stehen, nicht nur außerhalb der ökonomischen.