Warum die Volksinitiative für einen Mindestlohn in der Schweiz gescheitert ist

Gegönnt wird nix

In der Schweiz ist eine Volksinitiative für die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns abgelehnt worden.

Das Thema wird wohl in der Schweiz auch im nächsten Jahr aktuell bleiben. Im Zentrum der diesjährigen Demonstrationen am 1. Mai, die Zehntausende auf die Straße brachten, stand die Mindestlohninitiative für Lohngerechtigkeit und gegen Lohndumping, über die am vergangenen Sonntag in einem Volksbegehren abgestimmt wurde.
Im Gegensatz zu vielen anderen EU-Ländern hat die Schweiz keinen gesetzlich festgelegten Mindestlohn. Frankreich führte 1950, Spanien 1980 und England 1999 einen solchen ein, in Deutschland ist eine Einführung mit Einschränkungen geplant. Mindestlöhne werden in Europa derzeit vermehrt diskutiert. »Einerseits ist die ­Armut seit einem Vierteljahrhundert in den Industriestaaten deutlich sichtbar, andererseits haben die Lohnexzesse im Management den Blick für die Lohnschere und die Tiefstlöhne geschärft«, meint Dr. Bernard Degen von der Universität Basel.

Das Hochlohnland Schweiz schützt seine Löhne nicht. Nur die Hälfte aller Beschäftigten in der Schweiz arbeitet in einer Branche mit Mindestlöhnen. So verdient etwa fast ein Sechstel aller Verkäuferinnen und Verkäufer weniger als 22 Franken (18 Euro) pro Stunde, obwohl viele von ihnen eine Lehre abgeschlossen haben. Hunderttausende verdienen ebenfalls weniger als 22 Franken pro Stunde, wobei die Lebenshaltungskosten im Durchschnitt sehr viel höher sind als in Deutschland. Bis vor kurzem haben sich die Schweizer Gewerkschaften darauf konzentriert, den Mindestlohn über die Gesamtarbeitsverträge (GAV) einzuführen, die die Arbeitsverhältnisse in bestimmten Branchen regeln. Doch das genügt nicht, da nicht alle Beschäftigten erfasst werden.
Seit 2011 sammelten die Gewerkschaften daher Unterschriften für eine Mindestlohninitiative. Am vergangenen Sonntag konnte in der Volksinitiative »für den Schutz fairer Löhne« abgestimmt werden, ob Bund und Kantone die Festlegung von Mindestlöhnen in GAV fördern sollen. Als Mindestabsicherung wurden 22 Franken pro Stunde verlangt, was 4 000 Franken pro Monat ergibt. Ausgenommen sind Auszubildende und Beschäftigte in speziellen Arbeitsverhältnissen.

Doch die Gegner des Mindestlohns sahen die in der Schweiz hochgejubelte »Sozialpartnerschaft« gefährdet, in der die Löhne zwischen Unternehmern, Angestellten und Gewerkschaften ausgehandelt werden sollen. Die linke Wochenzeitung WOZ erinnerte daran, dass Arbeitsgeber dabei ­offenbar vergessen hätten, auf welche Weise viele GAV zustande kommen. Nach jahrelangen Streiks mussten Gesamtarbeitsverträge den Arbeitgebern oft aufgezwungen werden.
Das überparteiliche Komitee »Mindestlohn Nein«, bestehend aus wirtschaftsliberalen und rechten Parteien wie der Schweizer Volkspartei (SVP) und Wirtschaftsverbänden, findet den geforderten Mindestlohn zu hoch. Er verteuere die Schweizer Produktion und schränke die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen ein, warnt das Komitee. »Die wirtschaftliche Realität wird ignoriert«, meint Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands. Einige Branchen könnten keine hohen Löhne zahlen. Es drohe die Schließung von Firmen oder eine Verlagerung ins Ausland.

Die Argumente der Gegner der Ausweitung von Mindestlöhnen hatten die Schweizerinnen und Schweizer überzeugt. 77 Prozent stimmten am vergangenen Sonntag gegen die Initiative, sie befürchteten vor allem den Abbau von Arbeitsplätzen und die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften. Bereits im Herbst 2013 wurde über die Initiative »1:12« abgestimmt. Damals wurde gefordert, ein maximales Verhältnis zwischen dem tiefsten und höchsten Lohn festzulegen, die Chefs eines Unternehmens sollten nicht mehr als zwölf Mal so viel verdienen wie ihre untersten Angestellten. Unternehmer führten eine teure und erfolgreiche Gegenkampagne, mit ähnlichen Argumenten wie heute bei der Mindestlohnini­tiative, sodass diese auch abgelehnt wurde. Unterstützung erhielten die Wirtschaftsvertreter auch durch die Annahme der Initiative »gegen Masseneinwanderung« der SVP vom Februar dieses Jahres (Jungle World 6/2014). Dabei sollte die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen für Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz jährlich durch Kontingente begrenzt werden. Die Unternehmen profitieren insofern davon, dass ausländische Arbeitskräfte nun bei Bedarf in die Schweiz geholt und mit niedrigen Löhnen abgespeist werden können. Sie hoffen also auf billige Arbeitskräfte und weigern sich, GAV abzuschließen.
Die Schweiz hat im Arbeitsmarkt sehr liberale Bestimmungen, sogar der Kündigungsschutz ist schwach. Nur im Kanton Neuenburg wurde bereits 2011 die Einführung eines Mindestlohns per Volksabstimmung angenommen. Neuenburg gehört zu den gewerkschaftlich am besten or­ganisierten Kantonen, eine wichtige Rolle spielte die Tradition des Mindestlohnes im benachbarten Frankreich. Der nun geforderte allgemeine Mindestlohn ist hoch, er wäre sogar der höchste weltweit, doch die Lebenskosten in der Schweiz sind es auch. Zu niedrigen Löhnen Beschäftigte benötigen außerdem häufig Unterstützung durch Sozialhilfe, womit die Gesellschaft einspringen muss, wenn Arbeitgeber wenig zahlen.
Die Arbeit rund um die am Sonntag abgelehnte Initiative wertet Pepo Hofstetter von der Gewerkschaft Unia dennoch als Erfolg: »Es gelang den Gewerkschaften, die Marke 4 000 Franken als Maßstab für einen anständigen Mindestlohn zu setzen.« Verschiedene Betriebe haben eine ­Erhöhung auf dieses Minimum bekanntgegeben, so auch die deutschen Discounter Lidl und Aldi.