Die Wahlen in Libyen

Erst der Feldzug, dann der Putsch

In Libyen wird gewählt, doch die wichtigsten politischen Entscheidungen fallen nicht im Parlament.

Am heutigen Donnerstag geben viele Libyerinnen und Libyer gerade ihre Stimmen ab, in der zweiten freien Parlamentswahl seit dem Sturz Muammar al-Gaddafis. Ob das allerdings klären wird, wer Libyen in Zukunft regiert, ist fraglich. Derzeit beanspruchen drei Männer, der rechtmäßige Ministerpräsident zu sein. Und dann gibt es noch General Chalifa Haftar, der gerade auf eigene Rechnung eine erfolgreiche Schlacht gegen islamistische Milizen führt und zuvor die gewählte Regierung abgesetzt hat – allerdings nur im Fernsehen.
Libyen versinkt im Chaos – so viel ist seit einem guten Jahr bekannt. Ministerpräsidenten wechseln fast schon im Monatsrhythmus. Lokale und islamistische Milizen greifen regelmäßig das Parlament an, wenn ihnen Entscheidungen nicht passen. In Teilen des Landes üben Jihadisten ihre brutale Herrschaft gegen die Bevölkerung aus. In den Häfen und Ölraffinerien wird seit zehn Monaten nur sporadisch gearbeitet, weil sie immer wieder von Milizen besetzt werden.
Erstaunlich ist da, dass die Regierung doch zuweilen arbeitet. Gerade vergangene Woche erklärte der Justizminister auf einer Pressekonferenz, das Kabinett habe die Einrichtung eines Fonds für Vergewaltigungsopfer beschlossen. Frauen, die während der Revolution von Kämpfern vergewaltigt wurden, sollen nun entschädigt werden. Seit drei Jahren fordern Politikerinnen, Frauen- und Menschenrechtsvereine vehement einen solchen Fonds.
Erst zehn Tage zuvor konnte das Kabinett seine Arbeit wieder aufnehmen, nachdem ein Gericht entschieden hatte, wer nun Ministerpräsident ist – doch weitere Klagen sind anhängig. Abdul­lah al-Thinni, der ehemalige Verteidigungsminister, soll nun wieder Ministerpräsident sein. Er war im April nach nur einem Monat im Amt zurückgetreten, weil Milizen seine Familie bedroht hatten.
Anfang Mai war dann der den Islamisten na­hestehende Omar Ahmed Matik in einem umstrittenen Verfahren zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Zunächst erhielt er 113 Stimmen im 200köpfigen Parlament, 120 wären erforderlich gewesen. Die Islamisten hatten anscheinend schlecht mobilisiert, einige ihrer Abgeordneten konnten jedoch noch herbeigeschafft werden und so erhielt Matik in einer zweiten Abstimmung 121 Stimmen. Der zweite stellvertretende Sprecher des Parlaments erklärte Matik zum Ministerpräsidenten. Der erste stellvertretende Sprecher, zum Zeitpunkt der zweiten Abstimmung abwesend, protestierte kurz darauf. Am nächsten Tag erschien schließlich der Parlamentssprecher wieder zum Dienst und bestätigte die Wahl von Matik. Nun hat ein Gericht die Wahl für ungültig erklärt. Matik räumte den Posten, kündigte aber an, gegen das Urteil vorzugehen.
Derweil ist Ali Zeidan, der Vorgänger al-Thinnis, aus dem Ausland zurückgekehrt und will ebenfalls vor Gericht ziehen, um seine Absetzung im März anzufechten. Das Parlament hatte ihm das Vertrauen entzogen, weil er die Sicherheitslage nicht in den Griff bekam. Nun könnte er an dieser Front glaubwürdig Erfolge versprechen. Denn er hat sich einen mächtigen Verbündeten gesucht, den abtrünnigen General Chalifa Haftar. Politisch spektakulär inszenierte Zeidan ein Verbrüderungstreffen zwischen sich und Haftar in der ostlibyschen Stadt al-Baida. Damit ist Zeidan nach Mahmoud Jibril schon der zweite ehemalige Ministerpräsident, der sich auf die Seite des abtrünnigen Generals schlägt.

Haftar gilt als der neue starke Mann in Libyen, manche vergleichen ihn mit General Abd al-Fattah al-Sisi in Ägypten – und Haftar tut einiges, um diesen Vergleich nahezulegen. Allerdings hat er, anders als al-Sisi, kein Amt, sondern ist letztlich nur einer von vielen Milizenführern, wenn auch derzeit der erfolgreichste.
Er hat es geschafft, zahlreiche Milizen und Teile der regulären Armee unter dem Banner seiner »Libyschen Nationalen Armee« zu vereinen. Im Februar erklärte er im Fernsehen, Regierung und Parlament seien abgesetzt. Das löste bei den Politikern noch Belustigung aus. Im Mai griff er mit seiner Armee das Parlament an – in Libyen ein durchaus übliches Verhalten von Milizen. Auch dieser Angriff blieb folgenlos, wurde ihm aber trotzdem als Putschversuch ausgelegt. Das liegt zum einen daran, dass er keinen Zweifel an seiner Bereitschaft zum Putsch lässt. Zum anderen scheint er augenblicklich auch die militärische Macht dafür zu haben. Er sagt, 70 000 Mann hätten sich ihm angeschlossen. Die setzt er aber erst einmal ein, um sich im Osten und Westen Freunde zu schaffen. Mit einer Großoffensive geht er gegen die jihadistische Miliz Ansar al-Sharia vor, die in Bengasi einige ärmere Vororte sowie die Städte Derna, Sirte und Sabratha kontrolliert. Ansar al-Sharia soll für den Angriff auf das US-Konsulat im September 2012 verantwortlich sein, bei dem der Botschafter ums Leben kam.
Die Einwohnerinnen und Einwohner Bengasis waren in den vergangenen Jahren mehrfach selbst gegen jihadistische Milizen vorgegangen und hatten es auch kurzzeitig geschafft, Stadtteile zu befreien. Entsprechend froh sind sie, nun tatkräftige Hilfe zu bekommen. Auch die mäch­tige Miliz aus Zintan unterstützt die »Operation Würde« des Generals Haftar – die Berber aus der westlibyschen Bergregion hatten eine entscheidende Rolle bei der Einnahme von Tripolis während der Revolution gespielt und stehen den Islamisten traditionell feindselig gegenüber. Weil sie die Regierung für islamistenfreundlich und korrupt halten, stellen sie genau wie Haftar ihre Legitimität in Frage.

Doch während die »Operation Würde« viele Unterstützer findet, ist General Haftar selbst umstritten. Er gilt als Opportunist mit CIA-Verbindungen. 1969 half er Muammar al-Gaddafi, sich an die Macht zu putschen. In den achtziger Jahren führte er die Truppen im Krieg gegen den Tschad. Als er 1987 in Gefangenschaft geriet, leugnete Gaddafi, dass der General in seinem Namen gekämpft habe. Der gekränkte Haftar nahm ein Angebot der USA an, mit Hilfe der CIA nach seiner Freilassung die Exiloppositionsgruppe »Libysche Nationale Armee« zu trainieren. Als er in die USA umsiedelte, zog er ganz in die Nähe des CIA-Hauptquartiers in Langley im Bundesstaat Virginia. Das schürt Gerüchte, seine Putschversuche seien von den Amerikanern gesteuert. Dass er allerdings in den vergangenen 20 Jahren überhaupt noch etwas mit der CIA tun hatte, ist nicht belegt. Die USA dementieren eine Zusammenarbeit, Haftar ebenfalls. Er bekomme andere ausländische Unterstützung, sagt er. Angesichts seiner Anleihen bei der Situation in Ägypten mag das auf die Golfstaaten deuten.
Haftar war Anfang 2011 nach Libyen zurückgekehrt, um sich der Revolution anzuschließen. Weil er nicht zum Anführer der Revolutionsarmee gemacht wurde, wurde er zum erbitterten Rivalen von General Abd al-Fattah Younis, der im Juli 2011 unter mysteriösen Umständen ermordet wurde. Ob Zustimmung oder Misstrauen zum abtrünnigen General bei den Libyerinnen und Libyern überwiegen, werden diese Wahlen nicht zeigen. Haftar kandidiert nicht, denn er lehnt den Wahltermin als zu früh ab.
Dabei machte er keinen Hehl aus seinen Ambitionen auf das Präsidentenamt und wählt dabei die gleichen Worte wie einst sein Vorbild al-Sisi: Er wolle nicht Präsident werden, außer es sei der »Wille des Volkes«. Doch zunächst müsse die »Operation Würde« beendet sein. Die Kämpfe würden zwischen drei und zwölf Monate dauern, sagte er voraus. Im Moment sei die Stimmung für Wahlen nicht geeignet.
Mit letzterem dürfte er Recht haben. Allein die geringe Anzahl der Wählerregistrierungen zeigt, dass die Libyerinnen und Libyer gerade andere Sorgen haben. Nur 1,5 Millionen Wahlberechtigte des gut sechs Millionen Einwohner zählenden Landes haben sich angemeldet. Zu den ersten Wahlen 2012 waren es noch 2,8 Millionen. Von den nun Registrierten stehen allerdings zwei Drittel automatisch auf den Listen, weil sie sich zu den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im Februar registriert hatten. Auch diese Wahl hatte mit nur einer halben Million abgegebener Stimmen schon eine dramatisch niedrige Beteiligung. Viele Wahlbüros konnten wegen der Kämpfe nicht öffnen.

Die Wahl dürfte diesmal vielen zusätzlich schwer fallen, weil keine Parteien antreten dürfen. Schon zu den ersten Parlamentswahlen im Juli 2012 bestimmte das Wahlgesetz, dass nur ein Drittel der Parlamentssitze über Parteien gewählt werden, der Rest als Unabhängige. Die Regelung sollte einen Sieg der Muslimbrüder erschweren, hat aber de facto das Gegenteil erreicht: Die Islamisten schnitten zwar als Partei schlecht ab, konnten aber viele Unabhängige für sich gewinnen, so dass das derzeitige Parlament von ihnen dominiert wird. Dass nun überhaupt keine Parteien mehr antreten und zudem die antiislamistischen Kräfte um Haftar die Wahl ablehnen, dürfte einen islamistischen Sieg relativ sicher machen. Nur bedeutet er im derzeitigen Chaos so gut wie gar nichts.
Vor allem Staaten der Europäischen Union und die Vereinten Nationen hatten auf die Einhaltung des Wahltermins gedrängt. Großbritannien übernimmt den Großteil der Wahlkosten. Die Libyen-Mission der Vereinten Nationen leistet technische Unterstützung. Diese Politik könnte sich als fatal herausstellen. Sollte das neu gewählte Parlament seine Arbeit aufnehmen, statt wie bisher im Chaos zu versinken, drohen tatsächlich ägyptische Verhältnisse. General Haftar hätte guten Grund zu putschen – diesmal wirklich.