Die Vorzüge des Kurzpassspiels

Gib mich die Kirsche

Das Kurzpassspiel und seine Feinde. Eine Würdigung.

Es war am 16. Februar 2011. Koscielny fängt einen diagonalen Pass von Messi an der Strafraumgrenze ab, legt ihn, während Barca nicht energisch genug auf den Umschaltmoment reagiert, nach außen auf Bendtner, der, für Walcott ins Spiel gekommen, weit zurückgezogen steht. Bendtner bringt sich mit wenigen Schritten zu den zentral stehenden Wilshere und Fabregas in eine Dreiecksstellung, die vier kompakt stehende Barca-Spieler einschließt, die nun umspielt werden können, gibt einen schnellen horizontalen Pass auf Wilshere, der den Ball mit einer Berührung noch schneller und vertikal auf Fabregas weiterleitet. Der nimmt den Ball in einer Bewegung um 180 Grad mit und spielt einen flachen Pass nach vorn auf den 30 bis 40 Meter voraus­gelaufenen Nasri. Die Abwehr Barcelonas ist in nicht mehr als fünf Sekunden überbrückt, ohne dass der Ball den Boden verlassen hätte; lediglich eine Dreiereihe kann Nasri folgen, der keine Mühe hat, in deren Rücken zu spielen, wo Ashavin heranläuft und mit einem ansehnlich gezirkelten Schuss zum 2:1 abschließt. Wegen solcher Szenen lohnt es sich, Fußball zu schauen. Schönheit siegt über Schönheit, das Umschaltspiel über die Ballzirkulation und alles ist darin enthalten, was den modernen Fußball ausmacht: Schnelligkeit, Präzision, intelligentes Vorgehen, fluide, aber nicht willkürliche Aufteilung des Raums, Taktik nicht nur als Mittel der Defensive, sondern auch des Angriffs und natürlich: das Kurzpassspiel.
Das Kurzpassspiel hat so viele Vorzüge, wie es Feinde hat. Also viele. Es ist die Aufhebung des Gegensätzlichen, indem in ihm Schönheit und Ordnung, Individualität und Kollektivität bis zur Ununterscheidbarkeit verwachsen. Es erschwert durch den schnellen Wechsel der Sta­tionen den Zugriff des Gegners und ermöglicht dadurch, dass der Ball stets am Boden bleibt, Kontrolle auch bei hoher Geschwindigkeit. Es ist, da es sich des einfachen Prinzips bedient, dass kein Spieler so schnell wie der Ball sein kann, als Idee unschlagbar. Heute sehen das viele anders. »Tiki-Taka ist tot, Spanien lebt«, titelte irgendein Journal nach dem 1:5 gegen die Niederlande in der Vorrunde der WM.
Tatsächlich war es umgekehrt. Diese Mannschaft, die da auf dem Platz stand, war irgendwas zwischen malad und verstorben. Der Stil aber, den sie spielt und gespielt hat, ist nicht tot. Von jeder Methode gilt, dass sie gut oder schlecht angewendet werden kann. Wird sie schlecht angewendet, liegt das Problem nicht bei der Methode. Es läge allenfalls dort, wenn sie in sich nicht systematisch genug ausgearbeitet wäre. Aber dass sie das ist, hat die Vergangenheit gezeigt. Es ist in der Tat sinnlos, Kurzpass zu spielen, wenn die Zirkulation zu langsam und die vertikalen Pässe nicht explosiv genug sind. Die Spanier haben nicht verloren, weil ihr System geknackt wurde, sondern weil sie es schlecht ausgeführt haben. Sie waren im Passen zu langsam, im Angriff nicht gefährlich, ihre berüchtigte Pressingresistenz war kaum zu sehen, ihr Gegenpressing nicht penetrant und schnell genug. Sie wurden mithin von Niederländern bezwungen, die (wenn auch nicht über die volle Zeit) all das hatten, was die Spanier vermissen ließen.
Der spanische Fußball ist ein von Johan Cruyff entwickeltes Derivat des niederländischen. Die Differenz beider Systeme liegt darin, dass das niederländische Spiel dynamischer ist, eher über die Flügel geht und den Akzent mehr auf Tempo und Lauf legt. Im Clubfußball entspricht das in etwa der Linie Ajax–Arsenal–Dortmund. Dem spanischen Stil, der deutlich mehr horizontale Pässe spielt und auf einem eher ruhigen, Stellungsfehler des Gegners abwartenden Spielaufbau fußt, der dann aber im Angriff durch präzise, schnell und explosiv gespielte Vertikalpässe gefährlich werden kann, kommen Barca und in Ansätzen der FC Bayern am nächsten. Beide Stile, Umschaltspiel wie Zirkulation, haben jedoch Balleroberung, Kurzpässe und intelligentes Positionsspiel zur Voraussetzung. Sie sind der Inbegriff des modernen Fußballs.
Fußball ist von jeher ein Gegenstand der Projektion, an dem sich abarbeitet, wer es an der eigentlichen Stelle nicht vermag. Im vikto­rianischen Zeitalter nahm sich die Oberschicht des British Empire der Förderung des Fußballs an, um dem aufkommenden Individualismus und dem Verfall der Sitten entgegenzuwirken. Typisch britische, als männlich verstandene Eigenschaften wie Ausdauer, Kraft und Schneid sollten durch diesen Sport befördert werden. Das Passspiel galt in diesem Zusammenhang naturgemäß als inferior, denn in der diffusen Stimmungslage aus Misogynie und Antiintellektualismus musste der Versuch, den Gegner nicht durch Dribblings niederzukämpfen, sondern mittels Pässen zu umgehen, wie eine Vergegenständlichung all dessen erscheinen, gegen das man ja wirken wollte. Die sechste Regel der Laws of the Game, die die FA 1863 mit ihrer eigenen Gründung gültig machte, untersagte den Pass als Mittel der Offensive; gestattet waren ausschließlich horizontale und Rückpässe. In den folgenden Jahrzehnten wurde, vor allem unter dem Einfluss schottischer Vereine, dieses Verbot erst modifiziert und schließlich beseitigt. Die Abneigung gegen das Passspiel aber blieb. Da das Passen einmal erlaubt war, richtete sich das Ressentiment, das seiner Quellen ja nicht beraubt war, nun gegen das Kurzpassspiel. In England, wo sich das kernige Kick & Rush mit seinen langen hohen Bällen und seinem Akzent auf dem Athletischen als Fortsetzung der männlichen Spielweise durchsetzte, wurden kurze, flache Pässe misstrauisch beäugt. In Südamerika, wo das Ideal des Machismo zugleich etwas mehr Glanz verlangte, setzte sich das kunstvolle Dribbling durch, das mit dem Kurzpassspiel ebenso wenig anfangen konnte.
Im Kurzpassspiel fallen technischer Umweg und taktisches Können zusammen. Der technische Umweg weckt die Misogynie, die Taktik das antiintellektuelle Ressentiment. Der Erfolg des Kurzpassspiels, der im 20. Jahrhunderts punktuell war, im gegenwärtigen Fußball aber eine dauerhafte Grundlage zu bilden scheint, macht es schwer, gegen diese Spielweise anzureden. Solange die Spanier mit ihrem Stil, der in Deutschland unter dem albernen Namen »Tiki-Taka« bekannt ist, unschlagbar schienen, musste man es halb zähneknirschend, halb bewundernd anerkennen. Als sie – vor allem im Kopf übrigens – müde wurden, kippte die Stimmung. Die Lust, den wankenden Champion auch fallen zu sehen, verband sich mit den immer schon bewahrten Vorbehalten gegen die Spielweise.
Mit gleichzeitig dankenswerter Offenheit brachte der Publizist Wolfram Eilenberger Anfang 2013 auf den Punkt, was viele bloß fühlten: Der spanische Fußball »reinigte das Feld von (…)  klassisch ›männlichen‹ Attributen wie Physis, Aggressivität, Egoismus und Rang und ersetzte sie extrem erfolgreich durch klassisch ›weiblich‹ codierte Leitwerte wie Kommunikation, Kollektivität und Kreativität«. Man muss diese Zuschreibungen nicht für treffend halten; wichtiger ist, was sie über das Denken des Sprechenden aussagen. Da wird erstens ein Anspruch von außen an das Spiel herangetragen, der bezogen auf den Wert des Spiels vollkommen gleichgültig ist, und zweitens werden Elemente, die es von jeher im Spiel gegeben hat und die notwendig dazu gehören, im Geiste vom Spiel abgetrennt und ihm gegenübergestellt. Die »männlichen« Attribute verschmelzen in dieser Perspektive mit dem Spiel überhaupt, während die »weiblichen« als fremdartige Neuheiten missdeutet werden.
Zugleich, verklemmt hinter dem Begriff der Codierung verborgen, gibt sich der ungewaschene Geist zu erkennen, für den sich die weibliche Seite der Sexualität in nicht zielführendem Gefummel erschöpft. Das spanische Spiel besteht nach Eilenberger in einer »nur noch pathologisch zu nennenden Penetrationsverweigerung« und einem »permanenten Vorspielen ohne erkennbares Abschlussverlangen«. Nun hat der FC Barcelona die damals laufende Saison der Primera Division zwar mit 115 Toren abgeschlossen, doch die Stimmigkeit einer These wiegt weniger, wenn ihr Vorzug darin liegt, eine Stimmung auszudrücken. Und wie das bei Stimmungen oft ist, verrät das, was knapp daneben liegt, auf seine Weise recht viel. Das Kurzpassspiel verweigert ja nicht in der Offensive die Penetration, sondern, indem es den Ball hält beziehungsweise schnell erobert, vor allem in der Defensive. Es lässt den Gegner nicht zum Zug kommen, worin womöglich schon der ganze Zauber der in jüngster Zeit modisch gewordenen Meinung der Deutschen liegt, dass Tiki-Taka eine langweilige Art Fußball sei. Die Deutschen nehmen es den Spaniern in der Tat übel, dass die sich von ihnen – Clubbegegnungen nicht mitgerechnet – gleich zweimal nicht haben ficken lassen.