Boko Haram mordet in Nigeria weiter

Mörderische Masche

Die Morde durch die islamistische Terrororganisation Boko Haram im Norden Nigerias nehmen zu. Nigeria droht zu einem failed state zu werden. Mitschuld tragen ein korrupter Sicherheitsapparat und Machtkämpfe in der Politik.

Der 12. Juli ist »Malala-Tag«, wie die Uno ihn nennt. Für ihren Einsatz für Schulbildung für Mädchen war die pakistanische Menschenrechtsaktivistin Malala Yousafzai 2012 von Talibankämpfern in den Kopf geschossen worden. Am 12. Juli 2013, ihrem 16. Geburtstag, hielt sie vor der Uno ihre erste Rede. Ein Jahr später sprach sie nun in Abuja, der Hauptstadt Nigerias. Noch immer fehlt jede Spur von den mehr als 200 Schülerinnen, die von der islamistischen Terrororganisation Boko Haram im April entführt wurden. Einem aktuellen Bericht von Human Rights Watch zufolge hat die Gruppe unter Anführer Abubakar Shekau allein in den vergangenen sechs Monaten mehr als 2 000 Menschen ermordet.
Wie in ihrer ersten Rede vor der Uno betonte Malala auch dieses Mal die Bedeutung von Bildung. Es sei sehr unglücklich, dass Nigeria nur 1,5 Prozent seines Jahreshaushalts für Bildung ausgebe. »Bildung ist die beste Waffe, mit der wir Armut, Ignoranz und Terrorismus bekämpfen können«, sagte sie. In Nigeria können dem CIA World Factbook zufolge nur 62 Prozent der über 15jährigen lesen und schreiben, bei Frauen sind es sogar nur 51 Prozent. Dabei hat das Land, das zur stärksten Nationalökonomie Afrikas aufgestiegen ist, großes Potential. Mehr als 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 25, diese nicht zu fördern, wird Nigerias Wirtschaft langfristig schaden. Bildung ist wichtig, um den Norden zu modernisieren. Doch in Hinblick auf die unmittelbare Bedrohung durch Boko Haram liegt Malala Yousafzai falsch. Hier gibt es andere Probleme.

Dass die Terroristen mit derselben Strategie noch immer Erfolg haben, liegt unter anderem an einem fatalen Mangel an Informationen. Während internationale Medien von der Vorgehensweise der Terroristen berichten, dringen kaum Informationen über Boko Haram in die von ihnen kontrollierten Gebiete. Immer wieder fallen Menschen auf den selben Trick herein. Mehrmals haben Boko-Haram-Kämpfer sich als angebliche Militärangehörige Zugang zu Dörfern im Bundesstaat Borno verschafft und auf diese Weise Entführungen und Erschießungen vollstreckt. Bei einem Angriff auf Attagara in Borno Anfang Juni kamen sie am frühen Morgen. Sie versicherten, dass sie von der Armee geschickt worden seien, um die Bewohner des Dorfes vor Terroristen zu schützen. Als sich die Menschen daraufhin in der Dorfmitte versammelten, feuerten die Islamisten in die Menge. Mehr als 400 Menschen starben, darunter viele Frauen und Kinder, doch die genauen Opferzahlen werden gar nicht mehr erfasst, da die Angriffe im Norden Nigerias zur Regel werden.
Am Donnerstag vergangener Woche wurde ein deutscher Ausbildungsleiter am Technical Training Center im Bundesstaat Adamawa entführt. Bisher hat sich Boko Haram zwar noch nicht zu der Entführung bekannt, doch das Dorf Chibok, aus dem die Schülerinnen gekidnappt wurden, liegt in direkter Nähe, ebenso die Sambisa-Wälder, in denen die nigerianische Regierung die Entführten vermutet. Außerdem kamen die Entführer auf Motorrädern, die auch oft von Boko Haram genutzt werden.
Die Islamisten sind besser ausgerüstet als die nigerianische Armee, sie kommen in gepanzerten Fahrzeugen, tragen hochwertige Maschinengewehre und mitunter auch Militäruniformen, wie auch beim Massaker in Attagara. Mitunter haben Boko-Haram-Kämpfer die Ausrüstung aus Überfällen auf das Militär erbeutet, doch das Ausmaß, in dem sie darüber verfügen, legt nahe, dass Offiziere und Lokalpolitiker Boko Haram direkt unterstützen.
»Es gibt Informationen, dass Boko Haram direkte Verbindungen zu Militär und Polizei hat, und wir haben Grund zu der Annahme, dass diese Informationen richtig sind. Wenn Attacken stattfinden, sind die Sicherheitskräfte oft weit entfernt, oft nicht einmal bereit, überhaupt zu intervenieren«, sagt Leo Igwe, nigerianischer Menschenrechtsaktivist und Doktorand der Universität Bayreuth.

Anfang Juni erst wurden in Abuja zehn Generäle und fünf weitere Militärangehörige wegen der Unterstützung von Boko Haram verurteilt. Das geringe Einkommen im Militär macht die Terrorgruppe zu einem lukrativen Geschäftspartner. Der nigerianischen Zeitung The Leadership zufolge haben die Verurteilten Informationen weitergegeben, die zu Überfallen Boko Harams auf Militärkonvois und Armeestützpunkte im Nordosten des Landes geführt haben. Bis zum Urteil weigerte sich das nigerianische Verteidigungsministerium, die Beweislast anzuerkennen. Der Sprecher, Generalmajor Chris Olukolade, äußerte gegenüber The Leadership, der Prozess sei »initiiert von ­denen, die wild entschlossen sind, die Nigerianer und die internationale Gemeinschaft in die Irre zu führen und dem negativen Eindruck, welchen sie über das nigerianische Militär verbreiten wollen, Glaubwürdigkeit zu vermitteln«. Er widersprach damit Innenminister Abba Moro, der im Interview mit der BBC die Verurteilung als »gute Nachricht« begrüßt hatte.
Die widersprüchlichen Äußerungen innerhalb der Regierung und des Militärs zeigen, dass es nicht nur um ökonomische Anreize geht. Nigeria ist politisch tief gespalten und aus der Instabilität im Land lässt sich für unterschiedliche Gruppen Kapital schlagen. Das aktuellste Beispiel hierfür ist die Festnahme von Murtala Nyako, Gouverneur des Bundesstaats Adamawa, in dem die mutmaßlich durch Boko Haram erfolgte Entführung des deutschen Ausbilders stattfand. Das nigerianische Magazin Power Steering News schreibt, dass Nyako sein Amt missbraucht habe, um über 500 Söldner aus der Bevölkerungsgruppe der Fulani aus Nordafrika anzuheuern und Unruhe vor den 2015 anstehenden Wahlen zu schüren. Ebenso soll er seine Farmen als Waffenlager für diese Gruppen genutzt haben. Er habe damit die durch Boko Haram verursachte Instabilität noch vergrößert. Direkte Verbindungen zu Boko Haram lassen sich nicht nachweisen, doch es gibt Gerüchte, dass Nyako auch Mitglieder der Terrororganisation in der Vergangenheit als Instrument für seine Machtpolitik missbraucht habe. So soll ein Anschlag der Gruppe auf sein Haus im April 2013 kein terroristischer Akt, sondern eine Zahlungserinnerung gewesen sein.

Nyako zählt zu einer Gruppe nordnigerianischer muslimischer Lokalpolitiker, die mit dem südnigerianischen christlichen Präsidenten Goodluck Jonathan im Konflikt stehen. Eigentlich hätte bei seiner Ernennung im Jahr 2010 gemäß einem Rotationsprinzip innerhalb der Regierungspartei People’s Democratic Party (PDP) der Norden den Präsidenten stellen dürfen. Mithilfe Boko Harams machen diese Politiker das Land für Jonathan nun unregierbar. Eine Politik, die dem New Yorker Think-Tank Council on Foreign Relations zufolge in den vergangenen drei Jahren mehr als 14 000 Menschenleben gefordert hat. An diesem Machtkampf könnte Nigeria zerbrechen. »Ein Staat versagt, wenn seine Führung versagt«, wird Lamido Sanusi, Gouverneur der nigerianischen Zentralbank, in Newsweek zitiert. »Ich bin nicht sehr optimistisch. Unsere Bürger sind auf sich alleine gestellt. Ich glaube, wir haben alle Symptome eines failed state.«
Vorige Woche erbat Präsident Jonathan vom Parlament die Erlaubnis, einen Staatskredit in Höhe von einer Milliarde US-Dollar für den Kampf gegen Boko Haram aufzunehmen. Für ihn ist das die letzte Chance, seine politische Zukunft und Wiederwahl im Jahr 2015 zu sichern. Für die Bevölkerung in Nordnigeria aber geht es ums nackte Überleben.