Magnus Klaue langweilt sich im Schlaraffenland

Auszug aus dem Schlaraffenland

Die Idee vom »essbaren Bezirk« hat mit gesellschaftlichem Fortschritt nichts zu tun. Sie lockt mit infantilen Allmachtsphantasien.

Wenige Utopien sind so öde wie die vom Schlaraffenland. Den ganzen lieben Tag in einer von Geschichte, Arbeit und Zufall scheinbar unberührten Welt herumliegen, sich gebratene Tauben in den Mund fliegen lassen, zum Pflücken von Obst sich höchstens mal zur Seite drehen, Kuchenstücke aus nahen Häuserwänden klauben, Wein aus dem in Reichweite fließenden Fluss schöpfen: Das Dasein, wie es sich im Schlaraffenland darstellt, ist die Wunschphantasie von Menschen, die ihr Leben lang nicht darüber hinwegkommen, dass sie irgendwann auf die Mutterbrust verzichten und sich zum Milchholen in den Supermarkt bemühen müssen. Sich nie zu verändern, jede Lust ohne Aufschub zu stillen, der doch die Lust oft erst ausmacht, satt und zufrieden vor sich hin zu stagnieren, bis der Unterschied zwischen Verblödung und Erfüllung nicht mehr spürbar ist – das ist das Versprechen des Schlaraffenlands.
Entgegen der populären Ansicht, es handele sich dabei um eine Utopie der Aufhebung des Arbeitszwangs, ist diese Wunschvorstellung eine der totalen Verfügbarkeit: Alle Tiere laufen mundfertig zubereitet durch die Gegend, sind statt ­Lebewesen animierte Sonntagsbraten, alles Gegenständliche, jede Objektivität geht auf in der Möglichkeit des Verzehrs, nichts darf einfach sein, wie es ist, als dem Zugriff der Menschen Widerstehendes haben die Dinge ihr Geltungsrecht verloren. Aus dem Schlaraffenland ist jede Erinnerung ans Eigenrecht der Objekte getilgt, alles in ihm, die Natur inbegriffen, ist nichts als Material der Menschen. Nur dass aus dieser Welt, in der ­alles schon bearbeitet, jedes Tier Festschmaus und jede Frucht Obst ist, die Subjekte der Arbeit ebenso wie deren Organisationsform auf wundersame Weise verschwunden sind. In dieser Ausblendung der Herrschaft, die in der griffbereiten Verfügbarkeit von allem erschreckend präsent bleibt, ähnelt die Phantasie vom Schlaraffenland kommunitaristischen Utopien.

Es ist also nicht überraschend, dass ausgerechnet die Kreuzberger Grünen ihren Bezirk künftig am liebsten in eine prekarisierte Variante des Schlaraffenlands verwandeln wollen. Zugegeben, das verdorrte, zugemüllte und flächendeckend stehpinklerbehandelte Ödland, das Görlitzer Park heißt, zu einer Obstbaumoase zu machen, ist kein schlechter, sondern nur ein aussichtsloser Einfall. Aber um im ganzen Bezirk die im Hof nebenan gepflückten Früchte auf dem Boden verzehren zu können, wäre nicht nur jahrzehntelange Verschönerungsarbeit, sondern auch ein Austausch der gesamten Bevölkerung notwendig. Und was am Ende dabei herauskäme, sähe verglichen mit der apollinischen Schönheit eines italienischen Weinbergs immer noch aus wie eine Mischung aus Schrebergarten und Schimmel-WG.
In Wahrheit spricht sich im Wunschbild des essbaren Kiezes, in dem in Höfen und Parks, auf Dachgärten und Balkons allerlei Köstliches gedeiht, das Bedürfnis nach zufriedenem Arrangement mit eigener und fremder, geistiger wie materieller Armut aus. Statt sich vorzustellen, wie die Großmutter im Dönerladen um die Ecke un­bezahlt die Fliesen putzt, lässt man Anna-Lena stolz die selbstangebauten Schulgartenäpfel nach Hause bringen, und statt einen Gedanken an die unerquicklichen Umstände zu verschwenden, unter denen der Dealer, bei dem man sein Gras kauft und den man mit jovial-sadistischem Stolz »meinen Dealer« nennt, sich im ungeregelten Konkurrenzkampf behauptet, veranstaltet man Führungen durch die eigene Marihuanaplantage.
Vor allem aber steht auch der Wunsch nach dem essbaren Bezirk im Bann der Verwertbarkeit. Die Bäume sollen nicht den Schönheitssinn entzücken, sondern Früchte tragen, die Gärten nicht Orte der Muße, sondern Wirklichkeit gewordene Phantasien von waldorfpädagogischen Biotechnokraten sein, und noch die paar Stunden, die der mit ganzheitlicher Lebensplanung gequälte Nachwuchs im Hinterhofbeet des Kinderladens verbringt, sollen erzieherischen und ernährungsphysiologischen Zwecken dienen. Was die Sinne der Menschen erfreut, ist für sich selbst statt nur für die Menschen da; in der Schönheit, die ohne die Menschen nicht wäre, machen diese sich ihr beglückendstes Geschenk, indem sie Dinge schaffen, die ihren Zweck in sich tragen und so die Lust der Menschen an der Welt und aneinander steigern. Um zu sehen, wie sich diese Fähigkeit in der Gestaltung von Gärten, Gebäuden und Bezirken sedimentiert, musste man aber seit jeher nach Italien, Frankreich oder England fahren. Die deutsche Lebenswelt ist sinnlich greifbare Unfähigkeit zu Lust und Freude, die linke deutsche Lebenswelt ihre negative Steigerungsform. Es wäre wunderbar, wenn sie weggeputzt würde. Aber dafür müsste man eine Ahnung davon haben, wie es schöner sein könnte, und die kann nur entwickeln, wem das Herumlümmeln im Schlaraffenland nicht letzter Sinn des Lebens ist.