Antirussische Hetze in der Queer-Community?

Fiktiver Aktivist, reale Empörung

Ein Artikel erschreckt die queere Gemeinde nicht nur im Rheinland. Doch ob der angeblich am Moskauer Flughafen verhaftete »Aktivist Andrew« überhaupt existiert, ist nicht belegt.

Es klingt gruselig: Der bereits mehrfach wegen seiner Homosexualität vorbestrafte russische »Aktivist Andrew« soll auf dem Moskauer Flughafen verhaftet worden sein. Eine Regenbogenfahne im Reisekoffer sei dem »lieben Kerl« und »Freiheitskämpfer« zum Verhängnis geworden. »Ich wollte Andrew gerade vom Flughafen abholen, da hat mich die E-Mail erreicht«, sagte Christian Urban einer Journalistin von derwesten.de. Der junge schwule Düsseldorfer gab an, dass er mit seiner russischen Internetbekanntschaft den CSD in Duisburg habe besuchen wollen. »Seine Mutter hat Angst um ihren Sohn«, wurde der junge Mann auf derwesten.de zitiert. Dreimal sei Andrew nun schon verhaftet worden. »Er ist ein Kämpfer – genau wie ich«, fügte Urban hinzu. In dem Artikel wird gemutmaßt, dass Andrews Name den Behörden bekannt gewesen sein müsse. »Die Kofferkontrolle war sicher reine Schikane«, vermutet Urban.

Spekulationen verbreitete auch Jörg Kalitowitsch in einem vielfach auf Facebook geteilten Beitrag. Der »Paradenleiter« des »Cologne-Pride« fand es »verwunderlich«, dass vor der Abreise der Koffer durchsucht worden sei, und hielt »eine gezielte Aktion gegen den Aktivisten« für wahrscheinlich. Sicherheitskontrollen sind allerdings auch an Russlands Flughäfen üblich. Homosexualität ist gesellschaftlich verfemt, homosexuelle Handlungen sind jedoch nicht illegal. Und das international harsch kritisierte »Gesetz gegen homosexuelle Propaganda« sanktioniert zwar positive Äußerungen über Homosexualität in Gegenwart Minderjähriger und im Internet, aber nicht das Mitführen einer Regenbogenflagge im Reisegepäck – was selbstverständlich noch nichts über die Auslegung des Gesetzes durch die russische Polizei und andere Behörden sagt.
In jedem Fall birgt der Artikel etliche Ungereimtheiten. Dennoch sorgte die Geschichte für helle Empörung bei der Leserschaft von derwesten.de. »So wie in Russland mit Minderheiten umgegangen wird«, werde er »an eine dunkle Zeit des letzten Jahrhunderts« erinnert, schrieb ein Leser in einem Kommentar. Schwulen- und russenfeindliche Bemerkungen wechselten sich ab. Hinweise, dass es sich um eine Falschmeldung handeln könnte, wurden von der Redaktion geflissentlich ignoriert und von Lesern als »Verharmlosung« gebrandmarkt.
Dem Chefredakteur des renommierten LGBT-Portals queer.de war »Andrew« von Anfang an keine Meldung wert. »Die Geschichte war nicht glaubhaft genug, um sie überhaupt aufzugreifen«, sagt Norbert Blech. Wie auch derwesten.de wurde der schwule Online-Journalist dank Kalitowitsch auf den Fall aufmerksam, die beiden kennen sich auch persönlich. Blech recherchierte, kontaktierte den Kölner CSD-Organisator, rief Urban in Düsseldorf an und legte die Geschichte schließlich als unbrauchbar beiseite. Nachdem derwesten.de die Story veröffentlicht hatte, postete Blech auf Facebook: »Dank der hysterischen Facebook-Welt stellt sich einem immer öfter die Frage, wie man mit Nachrichten umgehen soll, die man nicht verifizieren kann, die andere aber einfach mit einem ›offenbar‹ bringen.« Im Gespräch mit der Jungle World ergänzt Blech: »Das Vorpreschen von derwesten.de geht gegen jegliche Handwerkskunst und jedes journalistisches Gespür.«
Gunter Fessen, Sprecher der Essener Funke-Mediengruppe, zu der derwesten.de gehört, verteidigt die Recherche und den Nachrichtenwert. »Die Redaktion hat im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten und der gebotenen Sorgfaltspflicht gehandelt«, stellt Fessen fest und sagt, dass sehr wohl Telefonate geführt worden seien. Es liege die E-Mail der Mutter vor, die Urban weitergeleitet habe. »Für die Veröffentlichung wurde dennoch bewusst ein distanzierter Duktus gewählt, da es sich um ein sensibles Thema handelt«, so Fessen.

Doch selbst Kalitowitsch zeigte sich einen Tag nach der Veröffentlichung auf Facebook nicht mehr überzeugt von der Geschichte: »Bis die Authentizität des Vorgangs geprüft ist, werden wir den Beitrag ›unsichtbar‹ stellen. Wir möchten so weiteren Spekulationen, Vermutungen und Unterstellungen vorbeugen. Es ist also noch unklar, ob es sich um eine Lügengeschichte handelt oder nicht.« Was bleibt? Der vermeintliche verhaftete Aktivist ist nach wie vor ein Phantom, auch die Existenz der Mutter ist unbewiesen, Nachnamen kann Christian Urban nicht nennen, Organisationen wie dem russischen Rechercheportal ovdinfo.org und Quaarteera, einem Berliner Verein russischsprachiger LGBT, liegen keine Hinweise vor, niemand in der überschaubaren und gut vernetzten russischen LGBT-Szene kennt Andrew.
Dennoch spukt der Artikel weiter durch queere Internetportale. Anhänger der Berliner LGBT-Initiative »Enough is enough – open your mouth« bekunden ihre Solidarität für das mutmaßliche »Putin-Opfer Andrew«, geißeln die »menschenverachtende Willkür« des russischen Präsidenten oder ergehen sich in russenfeindlichen Äußerungen. »Russland ist das schlimmste Land auf der Welt«, ist da noch ein sehr freundliches Beispiel. »Scheiß Russenpack. Man sollte alle Russen sofort abknallen und den Kopf abhacken. Wir Schwule sind auch nur Menschen«, schrieb ein junger Mann auf Facebook.
Den russischsprachigen Aktivisten Wanja Kilber ärgern solche Kommentare. Nicht nur deshalb hält der aus Kasachstan kommende Vorstandsvorsitzende von Quarteera den Beitrag von derwesten.de für überflüssig. »Durch Falschmeldungen lässt die Sensibilität der Community für weniger krasse Meldungen nach«, meint er.