Ebola lässt sich in Westafrika schwer eindämmen

Die Autonomie der Infektion

In den von der Ebola-Epidemie betroffenen Ländern Westafrikas ist die Durchsetzung eines cordon sanitaire schwierig. Um die davon betroffene arme Bevölkerung kümmert sich sowieso kaum jemand.

Als am Sonntag gemeldet wurde, dass in Liberias Hauptstadt Monrovia mehrere Ebola-Patienten aus einer Quarantänestation geflohen seien, war geschehen, was zu befürchten gewesen war. Aufgebrachte Anwohnerinnen und Anwohner waren zuvor mit Macheten in die Schule eingedrungen, die zur Quarantänestation umfunktioniert worden war, damit die Erkrankten die Station verlassen konnten. Es soll sich dabei um 17 Patienten handeln, die am Dienstag noch nicht gefunden worden waren. Zum Teil sollen sie von ihren Familienangehörigen »befreit« worden sein. Zudem hätten die Angreiferinnen und Angreifer die mit Körpersekreten verschmutzten Decken und Matratzen mitgenommen und dabei immer wieder skandiert, dass es Ebola gar nicht gebe, wie der liberianische Informationsminister Lewis Brown am Montag mitteilte.
Das alles ist natürlich äußerst erschreckend, beachtet man jedoch die Hintergründe, wird der Überfall verständlicher. Die Isolierstation liegt nämlich nicht irgendwo. Sie liegt in West Point, dem größten und elendesten Slum Monrovias. 80 000 bis 100 000 Menschen sollen in dem Gebiet dicht gedrängt ohne Strom und Wasser leben. Am Freitag voriger Woche war der Plan der Regierung bekannt geworden, ganz West Point unter Quarantäne zu stellen. An sich klingt Quarantäne nicht schlimm, in diesem Fall wäre es jedoch ein verharmlosender Ausdruck. Für die Bewohnerinnen und Bewohner des Slums hätte es bedeutet, das niemand mehr West Point verlassen oder betreten darf. In einem Stadtteil, in dem Hunger sowieso der Normalfall ist, bedeutet das für die Insassen Krankheit und Tod ohne Brot und Wasser. Dagegen aufzubegehren, ist zwar leider nicht üblich, wäre aber angemessen.

Der Quarantäneplan für den Slum West Point steht in einem größeren Zusammenhang. Am 1. August hatten die Regierungen von Guinea, Sierra Leone und Liberia erklärt, dass sie um eine Region am Mano River, in der die drei Länder aufeinanderstoßen, einen cordon sanitaire bilden würden. Das Dreiländereck, an dem die Grenzen so durchlässig sind, dass sie nur auf den Landkarten eine Bedeutung haben, ist das Zentrum der Ebola-Epidemie. Mehr als 70 Prozent aller bisher bekannten Fälle wurden in dieser Gegend registriert. Die Politik des cordon santaire sieht nun vor, dass das Militär die Zugänge zu dem Gebiet abriegelt und niemanden mehr heraus- oder hineinlässt. Für Nahrung allerdings wolle man sorgen, teilten die Regierungsvertreter mit. Erste Reaktionen, vor allem eines Sprechers der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der forderte, dabei unbedingt die Menschenrechte zu respektieren, ließen schon das Schlimmste ahnen.
Klarer äußerte sich der US-amerikanische Präventivmediziner William Schaffner in der New York Times. Das Ganze wirke wie eine Reflexhandlung, um zu zeigen, dass man überhaupt etwas tue, meinte Schaffner. Und weil die Militärangehörigen nun einmal besser ausgebildet und ausgerüstet seien als das Gesundheitspersonal, setze man Soldaten ein.
Der cordon sanitaire hat eine lange Geschichte. Seinen Namen verdankt er einer Maßnahme der französischen Regierung aus dem Jahr 1821. Damals entsendete die Regierung 30 000 Soldaten in die Pyrenäen, um ein aus Spanien kommendes tödliches Fieber aufzuhalten. Als Praxis ist der cordon sanitaire aber älter und wurde vor allem in Pestzeiten seit dem Mittelalter angewendet. Im Jahr 1665 kam es dabei in dem englischen Dorf Eyam zu einer protestantischen Selbstreinigung. Unter den 350 Einwohnern war die Pest ausgebrochen, wahrscheinlich durch einen Floh in den Stofflieferungen des örtlichen Schneiders, der auch das erste Opfer war. Das Dorf isolierte sich daraufhin selbst, versorgt wurde es von dankbaren Menschen aus der Umgebung, die Nahrung an einem Steinwall vor dem Ort ablegten. Nur ein Viertel der Bewohner Eyams überlebte die selbstgewählte Isolation, aber die Pest blieb im Dorf und verbreitete sich nicht.

Wichtig für die Funktion des cordon sanitaire waren immer die Überlebenden. Ein paar Menschen überlebten stets in den schlimmsten Pestzentren und waren danach vor der Krankheit geschützt. Ob sie immun oder einfach nur körperlich stark genug waren, ist dabei irrelevant. Ebenso, ob die cordons sanitaires mit heutigen Begriffen als Biopolitik verstanden werden oder als – vielleicht ungewolltes – sozialdarwinistisches Experiment der Auslese. Für die betroffenen Regionen Westafrikas jedenfalls ist es schwer, einen praktischen Grund für die Isolation zu finden, der sich tatsächlich auf die Eindämmung der Krankheit bezieht. Denn kontrollieren lässt sich in dieser Gegend die Bewegung der Menschen mit den zur Verfügung stehenden Mitteln selbst durch die Armee nicht. Das hängt mit den Gewohnheiten der Bevölkerung zusammen, die die willkürlich von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen beharrlich ignoriert, weil diese in keiner Weise die wirtschaftlichen, ethnischen und weitreichenden familiären Bindungen berücksichtigen. Außerdem ist es in vielen westafrikanischen Ländern seit Jahrhunderten üblich, dass die Menschen immer wieder in andere Regionen zu Verwandten und Freunden wandern, ohne sich an die Staatsgrenzen zu halten. Und da nur wenige Staatsbürgerinnen und -bürger jener Länder einen Pass haben, lassen sich diese Wanderungen auch nicht kontrollieren.
Das alles sind Gewohnheiten, die der WHO bekannt waren und in einem krassen Gegensatz zu ihrer Politik in Westafrika stehen. Im Unterschied zu allen bisherigen Ebola-Ausbrüchen tat die WHO zunächst gar nichts, als im Dezember 2013 die ersten Fälle bekannt wurden. Auch als im März dieses Jahres bereits abzusehen war, dass die Epidemie bisher ungekannte Ausmaße annehmen würde, geschah wenig. Zum internationalen Gesundheitsnotfall erklärte die WHO die Ebola-Seuche erst Anfang August, als wirklich nicht mehr auszuschließen war, dass sie auch außerhalb Westafrikas auftreten würde. Mit den ersten Fällen in Nigerias Hauptstadt Lagos, einer der internationalen Finanzmetropolen Afrikas, und der befürchteten Ausbreitung nach Kenia drohte die Seuche dann auch auf die westliche Geschäftswelt überzugreifen.

Natürlich ist es besser, den Gesundheitsnotstand spät als nie auszurufen. Ebenso ist es besser, mit noch nicht zu Ende getesteten Medikamenten zumindest für ein paar Menschen die Schmerzen zu lindern, als nichts zu tun. Dennoch birgt der kostenlose Test von Medikamenten, die bisher nur an Affen erprobt worden sind, an Menschen medizinethische Probleme. Das liegt nicht nur daran, dass die strengen Auflagen, die die WHO für solche Einsätze vorsieht, unter den Bedingungen der Panik in Westafrika gar nicht eingehalten werden können – was wiederum auch mit den zu langsamen und unzulänglichen Reaktionen der WHO und der »internationalen Gemeinschaft« zusammenhängt. In Westafrika hatte niemand Erfahrungen mit Ebola und das gesandte Schutzmaterial war sehr schnell verbraucht. Dadurch infizierten sich auch lokale Ärztinnen und Ärzte und starben, was unter der oft gläubigen Bevölkerung verständlicherweise zu Panik führte. Worauf soll man sich denn auch verlassen, wenn selbst der lokale Arzt krank wird? Die bei allen vorherigen Ebola-Epidemien angewandten strikten Methoden der Versorgung der Patientinnen und Patienten durch Ärzte und Gesundheitsexperten aus den USA und Europa, die dann lokale Helferinnen und Helfer ausbildeten, ist bei dem jetzigen Ausmaß der Epidemie nicht mehr durchsetzbar.
Dass Kenia am Dienstag seine Grenzen für Reisende aus Liberia, Sierra Leone und Guinea geschlossen hat, erscheint angesichts der derzeitigen Lage sinnvoll. In den Armutsregionen in den betroffenen Ländern Westafrikas dürfte eine Gesundheitsdiktatur aber derzeit nicht hilfreich sein. Zu groß ist der Abstand zwischen der politischen Führung mit ihren Angestellten und Beamten und der Mehrheit der armen Bevölkerung, deren Erfahrungen mit den staatlichen Autoritäten noch nie gut waren.