Der Psychothriller »Sag nicht, wer du bist!«

Wenn alle ein Rad ab haben

Der als Wunderkind gefeierte Frankokanadier Xavier Dolan widmet sich dem Psychothriller. »Sag nicht, wer du bist!« bietet schöne Bilder und zeigt die bekannten Schwächen des Regisseurs.

Die frankokanadische Provinz: Maisfelder, soweit das Auge reicht, Kühe, die einen anglotzen, auf den Landstraßen harte Jungs in Pick-ups. Was man hier machen kann: mit Gummistiefeln in den Kuhstall stapfen; durch die Felder rennen und sich von den widerspenstigen scharfen Maispflanzen die Haut zerschneiden lassen; sich mit den harten Jungs in den Pickups abgeben, auch auf die Gefahr hin, gelegentlich eins aufs Maul zu bekommen. Und überhaupt wieder einmal die eigene Haut riskieren, mit allem drum und dran. Soweit ungefähr reicht die Vorstellung vom Landleben, die sich Tom (Xavier Dolan) während eines Besuchs bei Agathe (Lise Roy) und Francis (Pierre-Yves Cardinal), Mutter und Bruder seines verstorbenen Freundes Guillaume, macht; eine Vorstellung, die ihn, einen sehr urbanen jungen Mann, gleichzeitig anzieht und abstößt.
Es gibt noch ein paar andere Dinge in der frankokanadischen Provinz, Bauernstubentristesse in Agathes Wohnzimmer zum Beispiel. Auch das kann eine Form von Selbsterfahrung sein. In einer Dorfkneipe hängt hinter dem Tresen eine Neonröhre, die sich zum Schriftzug »Les vraies affaires« formt. Man könnte das auf die schockierende Geschichte beziehen, die Tom vom Barkeeper erzählt bekommt und die ihn endgültig dazu bringt, einzusehen, wie gefährlich sein ländliches Selbstexperiment aller Romantisierung zum Trotz werden könnte. Gleichzeitig verbirgt sich in der Szene auch ein ironischer Kommentar zu Toms Sehnsucht nach den vermeintlich echten Dingen: eine Anrufung des Authentischen, die im hochstilisierten Retrodesign daherkommt. Es kann einem dann auch auffallen, dass die Bar, in der der Schriftzug befestigt ist, mit ihrem von kalt fluoreszierendem Licht durchfluteten Eighties-Dekor so gar nicht nach einem schrundigen Provinz-Honky-Tonk aussieht.
Und schließlich bemerkt man, dass der Film eigentlich die ganze Zeit nichts anderes gemacht hat: Das Rohe, Wilde, Andere, das von der die Sinne abstumpfenden Zivilisation Unberührte gibt es in »Sag nicht, wer Du bist!« gar nicht. Stattdessen stößt Tom überall nur auf seine eigenen Projektionen, die immer schon hoffnungslos korrumpiert sind. Er kann gar nicht anders, als die ungewohnte Umgebung, durch die er sich bewegt, zu ästhetisieren und zu idealisieren. Und zwar in ähnlicher Weise, wie es der Film selber tut. Expressionistische Lichtsetzung verklärt einen Geräteschuppen zur hochartifiziellen Studiokulisse; wenn Tom dann raus über die Felder stürmt und audiovisuelle Sensationen von allen Seiten über ihn hereinbrechen, fühlt man sich fast in einen Kriegsfilm über Vietnam versetzt. Selbst die Kühe blinzeln ein wenig zu fotogen in die Kamera.
Die abgründige Bildintelligenz, die in solchen Momenten aufscheint, das Bewusstsein, dass die Welt, sobald man durch die Kamera auf sie blickt, nicht mehr ganz sie selbst ist, ist die große Stärke nicht nur von »Sag nicht, wer Du bist!«, sondern von allen bisherigen Filmen Xavier Dolans. Und ein Grund dafür, dass der junge Regisseur schon eine ganze Weile zu den shooting stars der Festivalszene zählt: Dolan war gerade einmal 20, als er seinen Debütfilm »I Killed My Mother« 2009 in Cannes präsentierte und anschließend als neues Wunderkind der französischsprachigen Filmszene gefeiert wurde, besonders vehement von der traditionsreichen Filmzeitschrift Cahiers du cinéma, die man immerzu auf der Suche nach dem nächsten großen Ding im Weltkino ist. Schon in dem autobiographisch gefärbten »I Killed My Mother« übernahm er die Hauptrolle selbst. Als Schauspieler hat Dolan eine unbestreitbare, fast manische Präsenz, besonders eindrucksvoll sind seine Stirnlocken, die ihm bereits in seinem Debüt verwegen ins Gesicht hängen. Auch sein jüngster Film macht einiges aus dem Kontrast zwischen seinem ein bisschen in den Seilen hängenden Slacker-Hipster-Körper und der vitalen Statur des durchtrainierten, hochgeschossenen Schönlings Cardinal.
Dolans Arbeitstempo ist enorm: In Cannes hatte vor ein paar Monaten »Mummy«, seine bereits fünfte Regiearbeit, Premiere. In Deutschland läuft erst sein vorletzter Film an. »Sag nicht, wer Du bist!« kann als Dolans Versuch verstanden werden, sein sonst meist wild ins Kraut schießendes, expansives Kino einmal ein wenig einzuhegen, nach einer konzentrierteren, dichteren Form zu suchen: fast durchweg ein einziger Schauplatz, ein enger zeitlicher Rahmen, wenige Akteure, weniger Popmusik und formale Spielereien als sonst, ein am Genrekino, genauer am Psychothriller orientierter Plot. Aber in einer derart reduzierten, fast kammerspielhaften Anordnung – das Drehbuch basiert auf einem Bühnenstück von Michel Marc Bouchard – offenbaren sich die engen ästhetischen Grenzen von Dolans Kinoentwurf umso deutlicher. Man könnte das auf eine simple Formel bringen: Viele tolle Bilder machen noch lange keinen guten Film.
Oder umgekehrt: Ein guter Film würde den tollen Bildern mehr vertrauen und sie nicht bei jeder Gelegenheit mit küchenpsychologischem Melodrama überformen. Man kann sich zum Beispiel die Frage stellen, wozu Dolan die aufwendig konstruierte Familien- und Beziehungsgeschichte braucht, mit der sich Tom auseinanderzusetzen hat. Die Geschichte, in die die Hauptfigur gerät, bleibt, wenn man es freundlich ausdrücken will, undurchsichtig bis ambivalent. Weniger freundlich ausgedrückt: Handwerklich ist »Sag nicht, wer Du bist!« ein eher unbeholfen gebauter Thriller, der kaum daran interessiert ist, sich selbst Plausibilität zu verleihen. Zentrale Elemente der Handlung muss man einfach so hinnehmen: dass Guillaumes Mutter nichts von dessen Homosexualität wusste und deshalb auch Tom für einen Arbeitskollegen hält. Dass Francis, Guillaumes Bruder, verhindern möchte, dass die Mutter die Wahrheit erfährt – obwohl er selbst sich ebenfalls zum blondgelockten Neuankömmling hingezogen fühlt. Dass dann plötzlich noch eine vierte Figur, die ebenfalls blonde Sarah, gespielt von Evelyne Brochu, auftritt, die sich, ohne allzu viel Widerstand zu leisten, auf die selbstzerstörerischen psychosexuellen Spiele von Francis und Tom einlässt.
Es ließe sich natürlich einwenden, dass eine Kritik, die sich an handwerklichen Kategorien orientiert, selten etwas Interessantes an Filmen zu fassen bekommt; und auch, dass erratische Figuren im Kino oft aufregender sind als psychologisch brav durcherklärte. Ein Problem an »Sag nicht, wer Du bist!« ist aber gerade, dass Tom, Francis, Agathe und Sarah auf eine ziemlich langweilige, weil geheimnislose Art erratisch sind: Sie haben halt alle ein Rad ab. Wobei sich die Krankheitsbilder durchaus voneinander unterscheiden. Agathe hat etwas Wahnhaftes, Sarah verhält sich hysterisch (aus guten Gründen), Francis ist ein klassischer Psychopath. Bei Tom selbst handelt es sich um einen etwas interessanteren Fall, sein passiv-aggressives Herumeiern, das immer wieder auf ein sonderbar vehementes Nichthandeln hinausläuft, bleibt in mancher Hinsicht tatsächlich bis zum Schluss rätselhaft.
Was jedoch nichts daran ändert, dass Dolans Kino, erst recht mit Blick auf das Gesamtwerk betrachtet, einfach nur den psychologischen Realismus des »gut gemachten Films« durch einen reichlich eintönigen psychopathologischen Antirealismus ersetzt. Wenn sich ausnahmslos alle von Anfang bis Ende im emotionalen Ausnahmezustand befinden, lässt sich die Einzigartigkeit jeder einzelnen Gefühlsregung kaum noch registrieren. Was seinen Filmen vor allem fehlt, sind widerständige Details, die nicht im Gefühlsüberschwang aufgehen; oder auch, allgemeiner, ein Sinn für Differenzen, auch für Unterschiede der Tonlage: Die Tonspur ist in ihrer flächigen Überorchestrierung die große Schwäche aller Filme von Dolan, in »Sag nicht, wer Du bist!« ist sie besonders unerträglich: Wenn alle Ansätze genuiner suspense mit hektisch treibender Allerweltsspannungsmusik (Gabriel Yared im stählerndsten Hans-Zimmer-Modus) zugekleistert werden, wünscht man sich fast den übertriebenen Musikvideostil der Vorgängerfilme zurück. Die Bilder wissen – manchmal – um ihre gefährliche Nähe zum Kitsch; die Töne bleiben von Anfang bis Ende reines Sounddesign.

»Sag nicht, wer du bist!« Regie: Xavier Dolan. CA/F 2013. Filmstart: 21. August