Die deutschen Waffenlieferungen an die Kurden

Eine Frage der Bewaffnung

Die Bundesregierung hat sich entschieden, Waffen an die Kurden im Nordirak zu liefern, um den Vormarsch der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) zu beenden. Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag dem Vorhaben bei einer symbolischen Abstimmung mit großer Mehrheit zugestimmt, die Oppositionsparteien sprachen sich gegen Waffenlieferungen aus.

Erst vor wenigen Stunden hatte der Deutsche Bundestag seine Sondersitzung zur Krise im Nord­irak beendet, da meldete sich Donatella Rovera, Sprecherin von Amnesty International, aus der Region zu Wort. Nachdem ihre Mitarbeiter Überlebende von IS-Massakern befragt hatten, müsse sie von »systematischen ethnischen Säuberungen« sprechen, sagte Rovera. Ziel des IS sei es, »alle Spuren von Nichtarabern zu beseitigen«. Die Jihadisten hätten die »Sindschar-Region in ein blutgetränktes Schlachtfeld verwandelt«.

Die Bundesregierung dürfte Roveras Worte als Bestätigung ihres Kurses empfunden haben. Am Montag hatte sich der Bundestag mit den Stimmen von Union und SPD für die Lieferung von Waffen an die irakischen Kurden ausgesprochen. Die Opposition aus Linkspartei und Grünen stimmte dagegen. Die Sitzung diente allerdings eher dem nachträglichen öffentlichen Austausch von Argumenten – weil Waffenlieferungen nicht zustimmungspflichtig sind, hatte das Kabinett die Militärhilfe bereits am Sonntag beschlossen.
Die Peshmerga-Miliz, die Armee der kurdischen Regionalregierung im Nordirak, bekommt nun Waffen aus Bundeswehrbeständen im Wert von etwa 70 Millionen Euro. Bezahlen muss sie dafür nichts, zurückgeben muss sie die Waffen nach einem möglichen Sieg über die Jihadisten auch nicht. Es handelt sich unter anderem um 16 000 Heckler & Koch-Sturmgewehre der Typen G3 und des modernen G36 – letztere benutzt auch das deutsche Heer – mit einer Million Schuss Munition. Dazu gibt es 200 Panzerfäuste mit Munition, 30 Panzerabwehrsysteme vom Typ »Milan« mit 500 Raketen, 10 000 Handgranaten, Panzerfahrzeuge und Nachtsichtgeräte, Feldküchen und Metalldetektoren. Das Auswärtige Amt bewilligte überdies 4 000 Schutzwesten. Zugleich wird die humanitäre Hilfe für die Region aufgestockt.
Auch Tschechien, Australien und Albanien schicken Waffen in den Irak. Die tschechische Regierung verkauft überschüssige Kampfflugzeuge, allerdings an die als eher zweifelhaft geltende Zentralregierung in Bagdad. Albanien beliefert seit Sonntag die Peshmerga mit 22 Millionen Schuss Munition für AK47-Sturmgewehre und 32 000 Artilleriegeschossen. Wie viele Waffen die Kurden aus den USA, Frankreich und Großbritannien bekommen, ist unklar.

Die 100 000 Peshmerga-Kämpfer gelten zwar als diszipliniert, ihre Ausrüstung gilt aber als hoffnungslos veraltet. Etwa jeder sechste von ihnen kann künftig mit deutschen Waffen kämpfen. Fünf von ihnen sollen in der nächsten Zeit in der bayerischen Infanterieschule Hammelburg einen Crashkurs im Panzerknacken mit dem »Milan«-System absolvieren. Für die Bundeswehr lohnt sich die Sache: Sie wird alte Waffen los und kann ihre Bestände mit modernem Gerät wieder auffüllen. Das Bundeskriminalamt warnt wegen der Lieferungen vor Vergeltungsanschlägen des IS in Deutschland. 400 IS-Kämpfer sollen einen deutschen Pass besitzen.
Seit Wochen war in Deutschland über die Lieferung gestritten worden. Die Bitte der Kurden und die immer offensichtlicheren Massaker des IS waren in genau die Zeit gefallen, in der Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) den Kurs bei den Rüstungsexporten neu bestimmen wollte. Im Juni war bekannt geworden, dass Deutschland Waffen nach Algerien und Saudi-Arabien liefert, zudem wurde 2013 ein Rekord beim Export von Kleinwaffen aufgestellt. Gabriel machte dafür die schwarz-gelbe Vorgängerregierung verantwortlich. »Ich kann leider nicht die alten Entscheidungen rückgängig machen«, sagte er. Für die Zukunft kündigte er strengere Prüfungen an: »Wir müssen wesentlich zurückhaltender sein.«
Doch dann kam der IS und alles war anders. »Wenn sich Terroristen ein Gebiet unterjochen, um dort einen Rückzugsort für sich und andere Fanatiker zu schaffen, dann wächst auch für uns die Gefahr«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag im Bundestag. Gabriel gab seine Gewissensnöte zu Protokoll: »Das ist eine der schwierigsten Entscheidungen, die ich in meinen Leben bislang treffen musste.«
Die Grünen wollten den Kurden nicht zu besseren Waffen verhelfen. Niemand könne sagen, wo die Waffen letztlich landen werden, sagte ihr Fraktionsvorsitzender Anton Hofreiter. Die von der Regierung geplante Lieferung könne »Treibstoff für massive innerirakische Konflikte« sein, warnte der Fraktionsvorsitzende. Zumindest an einem Punkt aber blieben deutliche Unterschiede zur Linkspartei: Hofreiter befürwortete den militärischen Einsatz der USA gegen den IS.
Die Linkspartei hatte mit der Sache anfänglich ihre Schwierigkeiten. Mitte August sagte der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi, er sei »eigentlich strikt gegen deutsche Waffenexporte« – wie es auch der Beschlusslage der Partei entspricht. Der Terror des IS sei aber »ein Ausnahmefall«, so Gysi. »Ein Waffenexport könnte dann statthaft sein, wenn andere Länder dazu nicht unverzüglich in der Lage sind. Mit Protestbriefen wird man IS nicht stoppen.« Seine Partei war nicht amüsiert. Das Handelsblatt schrieb, sie gehe »auf Kriegskurs gegen Gysi«. Dessen Forderung sei »weder in der Partei abgesprochen, noch entspricht sie unserem Programm«, sagte der Rüstungsexperte der Linkspartei, Jan van Aken. »Position der Linken bleibt: Rüstungsexporte sind Geschäfte mit dem Tod und gehören verboten«, twitterte Sahra Wagenknecht. Gysi überlegte es sich daraufhin anders. »Wenn der Irak etwas genug hat, dann sind es Waffen«, sagte er am Montag in der Parlamentsdebatte. Um IS wirksam zu bekämpfen, werde der Sicherheitsrat der UN gebraucht. Zudem monierte er, dass der Bundestag am 1. September, dem Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, in Sachen Irak zusammentrat: »Ich finde es mehr als stillos, ausgerechnet an diesem Tag über die Lieferung von Waffen für einen Krieg zu debattieren.« In einem Entschließungsantrag der Linkspartei heißt es: »Rüstungsexporte sind immer ein Beitrag zu Krieg, Zerstörung und Tod.« Tragfähige Konfliktlösungen seien damit nicht zu erreichen.

Die Partei nutzte die Gelegenheit, ein Mitspracherecht des Parlaments bei Waffenlieferungen zu fordern. »Deutsche Soldaten, die Kriegswaffen an eine Kriegspartei in ein Kriegsgebiet liefern, sind ein Kriegseinsatz im Geist unseres Grundgesetzes«, sagte die Parteivorsitzende Katja Kipping. Das Parlamentsbeteiligungsgesetz müsse daher geändert werden. »Der Bundestag muss die Möglichkeit haben, bei solchen Vorgängen ein Stoppzeichen zu setzen.«
Dass dies bislang nicht möglich ist, sei Schuld des Bundestags, findet der Projektleiter für Rüstungsexportkontrolle des Bonn International Center for Conversion, Jan Grebe. Er sagte dem Evangelischen Pressedienst am Montag, die Abgeordneten hätten es verpasst, sich in der Frage von Rüstungsexporten selbst eine Rolle zu verschaffen. »Der Bundestag war diesbezüglich über Jahre im Dornröschenschlaf und ist erst 2011 in der Frage von Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien aufgewacht.«
Die Diskussion über die Waffenlieferungen war auch von der Frage bestimmt worden, ob die türkische PKK davon profitieren kann. Die hatte zwar lange ein eher distanziertes Verhältnis zur Peshmerga. Den IS bekämpfen aber nun beide gemeinsam. Zudem war es die PKK, die mit ihrem kurdisch-syrischen Ableger PYD Mitte August wohl Tausende Yeziden vor den Schergen des IS im Sindschar-Gebirge nahe der syrischen Grenze gerettet hatte. Der stellvertretende Vorsitzende der PKK-Nachfolgeorganisation KCK, Cemil Bayik, brachte sich deshalb vor einer Woche als Empfänger westlicher Waffen ins Gespräch. Es müssten »jene Kräfte mit Waffen ausgestattet werden, die am effektivsten gegen die Terrorgruppe vorgehen« – also der KCK, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nur dann könne der IS geschlagen werden. Selbst der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Andreas Schockenhoff, sieht dies ähnlich. »Es geht zuallererst um den Schutz vor Pogromen«, sagte Schockenhoff. »Wenn die PKK ein Ansprechpartner für Waffenlieferungen sein will, dann muss man das mit diesen Bedingungen verknüpfen.« Die Bundesregierung insgesamt entschied jedoch anders – wohl auch, weil das Bundesinnenministerium unbedingt am PKK-Verbot in Deutschland festhalten will. »Waffenlieferungen an nichtstaatliche Gruppen wie die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kommen nicht in Frage«, heißt es im Antrag von Union und SPD. Allerdings nimmt die Bundesregierung nun stillschweigend hin, dass die Peshmerga einen Teil der Waffen an ihre Kampfgenossen weiterreichen könnten.