Katalonien vor dem Unabhängigkeitsreferendum

Die Freiheit, die sie meinen

Zwei Monate vor dem geplanten Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens von Spanien spitzt sich die Diskussion zu. Diesen Donnerstag wollen wieder Hunderttausende für einen katalanischen Staat demonstrieren.

»Es gibt keinen Zweifel. Der Moment der Wahrheit kommt näher«, konnte man Ende August in der linken Online-Zeitung Público mit Blick auf zwei für Katalonien bedeutende Ereignisse lesen. Eines findet bereits diese Woche statt: Am 11. September, dem katalanischen Nationalfeiertag, werden aller Voraussicht nach wieder Hunderttausende Menschen in Barcelona und anderen Städten der Region auf die Straße gehen, um für ihre »Freiheit« und einen eigenen katalanischen Staat zu demonstrieren. Vergangenes Jahr hatten über eine Million Protestierende eine Menschenkette gebildet, dieses Jahr wollen sie sich in der katalanischen Hauptstadt zu einem riesigen »V« zusammenstellen, um ihren Willen (voluntat) zu wählen (votar) auszudrücken. Das zweite Ereignis wird das geplante Referendum über die Loslösung vom spanischen Staat sein, das nach dem Willen der katalanischen Regionalregierung am 9. November stattfinden soll. Ob es dazu wirklich kommt, ist jedoch weiterhin offen. Denn die rechtskonservative spanische Regierung betrachtet das Referendum als verfassungswidrig und damit illegal und verweigert sich jeglicher Diskussion darüber. »Es ist offensichtlich, dass es kein Referendum geben wird«, sagte jüngst Innenminister Jorge Fernández Díaz. Zu Beginn dieses Jahres hatte die Zentralregierung zusätzliche Rückendeckung vom spanischen Verfassungsgericht bekommen, das der katalanischen Bevölkerung zwar das »Selbstbestimmungsrecht« zusprach, aber zugleich betonte, dass Katalonien »kein eigenständiges politisches und juristisches Subjekt« sei und daher auch kein Referendum abhalten könne.

Sollte die Abstimmung im November stattfinden, hätte sie also keinerlei juristisches Gewicht. Auch die EU kritisierte mehrfach die Unabhängigkeitsbestrebungen. »Wenige Sekunden nach einer Entscheidung für die Unabhängigkeit würde Katalonien nicht mehr zur Union gehören. Sie würden nicht mehr dem Euro-System angehören. Sie wären nicht länger EU-Bürger«, hatte die damalige stellvertretende Präsidentin der EU-Kommission, Viviane Reding, im Februar betont. Der zukünftige Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, wurde im Juli noch deutlicher. »Man wird nicht einfach EU-Mitglied, indem man einen Brief schickt«, so seine schnippische Antwort auf die Frage, wie er zu dem Referendum stehe. Dem von der Unabhängigkeitsbewegung verbreiteten nationalen Mythos der Katalanen als stolzes und rebellisches »Volk« kommt das zugute.
Zwei Monate vor dem geplanten Referendum wird mit Pathos und historischen Vergleichen nicht gespart. Der katalanische Regierungschef Artur Mas von der konservativen Partei Convergència i Unió (CiU) sprach von einem Kampf »David gegen Goliath«, während der Vorsitzende der linksnationalistischen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), Oriol Junqueras, im August betonte, dass die Katalanen unter keinen Umständen »ihren Durst nach Gerechtigkeit und ihren Hunger nach Freiheit« der Zentralregierung oder spanischen Richtern unterwerfen würden. »Jetzt ist die Stunde gekommen«, lautet auch das Motto der Katalanischen Nationalversammlung (ANC), die seit ihrer Gründung 2012 zur treibenden Kraft der außerparlamentarischen Unabhängigkeitsbewegung geworden ist und die Massendemonstrationen organisiert. Nicht nur dem Namenskürzel nach, sondern auch inhaltlich sieht sich die ANC in einer Reihe mit Nelson Mandela, aber auch mit Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Die Unabhängigkeit sei der einzige Weg, »um die volle Anerkennung der katalanischen Sprache und Kultur zu erlangen« und »die Würde als Volk wiederzugewinnen«, so die Initiative.
Seit sich die wirtschaftliche Krise Spaniens auch zu einer politischen entwickelt hat, ist die Zustimmung der katalanischen Bevölkerung zur Forderung nach Unabhängigkeit stark gestiegen. Befürworteten diese 2010 noch 20 Prozent der Katalaninnen und Katalanen, sind es jüngsten Umfragen zufolge an die 40 Prozent. Insbesondere konservative Katalaninnen und Katalanen, die ihren moderaten Nationalismus die meiste Zeit im Rahmen des spanischen Staats ausgelebt hatten, wandten sich in den vergangenen Jahren dem Separatismus zu. Bei den Regionalwahlen 2012 hat sich die CiU erstmals offensiv für einen unabhängigen Staat eingesetzt und die Wählerschaft aufgefordert, nicht nach Inhalten, sondern nach ihrem »nationalistischen Gefühl« abzustimmen. Die ERC wurde damals zweitstärkste Kraft im Regionalparlament, so dass dort nun die Separatisten die Mehrheit stellen.

Mit dem Austritt aus Spanien würde man Krise und Korruption hinter sich lassen, behaupten die Nationalisten. Doch ist einer der bekanntesten Fürsprecher der katalanischen Unabhängigkeit, der langjährige Regierungschef Kataloniens Jordi Pujol (CiU), nun selbst in einen Korruptionsskandal verwickelt. Er soll mehrere Millionen Euro Schwarzgeld auf ausländischen Konten gelagert haben. Trotzdem sehen viele Unterstützer der Unabhängigkeit ihre Bewegung weiterhin als eine linke und emanzipatorische Kraft. In dem im Februar veröffentlichten Buch »Die katalanische Rebellion« betont der Autor Antonio Baños, dass der Feind der Katalanen der gleiche sei wie der der spanischen Linken: »Ein unreformierbarer, korrupter, oligarchischer und monarchischer Staat.« So mobilisiert auch die linke Unabhängigkeitsbewegung erneut sowohl zur Diada am 11. September als auch zum Referendum. Ihr Motto: »Ungehorsam für die Unabhängigkeit!« Auch wenn sie eine untrennbare Verbindung von »Unabhängigkeit, Sozialismus und Feminismus« betont und sich gegen die konservativen Nationalisten der CiU stellt, wird sie diese Woche wieder Fahnen schwenkend vereint mit ihnen auf die Straße gehen. Wenn es um die »nationale Identität« und Verteidigung der Nation geht, sind sich die katalanischen Nationalisten von links bis rechts einig.
In der Diskussion über die Unabhängigkeit Kataloniens geht es indes kaum um konkrete politische Inhalte, stattdessen ist viel die Rede von »Freiheit«, »Selbstbestimmung« und dem »Recht zu entscheiden«. Viele Leute erhoffen sich tatsächlich von einem eigenen katalanischen Staat eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Sabei zeigt nicht nur der Skandal um Pujol, dass diese Hoffnung vergebens ist. Zwar ist Katalonien eine der wohlhabendsten Regionen Spaniens und hätte mehr Geld zur Verfügung, würde der von katalanischen Nationalisten kritisierte Länderfinanzausgleich wegfallen. Das aber sagt noch längst nichts darüber aus, wofür das Geld verwendet werden würde. Zudem schätzt eine von der katalanischen Regionalregierung selbst in Auftrag gegebene Studie die Kosten einer einseitigen Abspaltung von Spanien auf fünf Milliarden Euro monatlich.

Eine Kritik am katalanischen Nationalismus, die nicht zugleich dem zentralspanischen Nationalismus zuspricht, ist weiterhin nur selten zu hören. Aber im Zuge der sich immer weiter zuspitzenden Diskussion melden sich auch vereinzelt Linke zu Wort, die von einem unabhängigen katalanischen Staat nicht das Reich der Freiheit erwarten. Die spanische Schriftstellerin und Mitbegründerin der feministischen Partei Spaniens, Lidia Falcón O’Neill, zeigte sich jüngst in einem Beitrag überrascht, wie geflissentlich die Linke derzeit alle marxistische Kritik und Analyse des Nationalismus als vorrangig bürgerliches Phänomen ignorieren könne. Ihr Nationalismus sei nicht nur unsolidarisch, sondern verhindere auch die aktive Teilnahme an wichtigen sozialen Kämpfen, da »weder Platz, noch Zeit, noch Worte übrig bleiben, um über etwas anderes zu reden als über die Unabhängigkeit«. Und so wird der Nationalismus auch diese Woche ein weiteres Mal mehr Menschen auf die Straßen bringen als soziale Kämpfe für ein besseres Leben.