Weißrussland und der Konflikt in der Ukraine

Lenin und Latte Macchiato

Der Konflikt in der Ukraine wertet das autoritäre Regime Weißrusslands diplomatisch auf. Massenproteste wie im Nachbarland muss Präsident Alexander Lukaschenko derzeit wohl nicht befürchten.

Als Gastgeber diplomatischer Verhandlungen war Präsident Alexander Lukaschenko, den Menschenrechtsorganisationen und Medien oft als »letzten Diktator Europas« bezeichnen, bislang selten gefragt. Nun aber soll in der weißrussischen Hauptstadt Minsk der Friedensprozess für die Ukraine eingeleitet werden. Die Präsidenten Russlands und der Ukraine, Wladimir Putin und Petro Poroschenko, trafen sich dort Ende August im Rahmen des Gipfels der Eurasischen Zollunion, seit Montag voriger Woche tagt die Contact Group on Ukrainian Reconciliation mit Repräsentanten Russlands, der Ukraine, der OSZE und der ostukrainischen Separatisten.
Wer dieser Tage in Minsk unterwegs ist, hat kaum den Eindruck, in einem autoritären Staat zu sein. Die Polizeipräsenz ist nicht höher als in den meisten westeuropäischen Metropolen. Auch ein Personenkult um das seit 20 Jahren autokratisch regierende Staatsoberhaupt Alexander Lukaschenko mit dem Spitznamen »Batka« (Väterchen) existiert nicht. In Cafés in der Leninstraße wird Latte Macchiato serviert, selbst die Subkulturen Westeuropas trifft man in Minsk wieder, Jugendliche mit Hipster-Vollbärten und Tattoos sind auch hier keine Ausnahme mehr.
Es dauert eine Weile, bis erste Dinge ins Auge fallen, die auf autoritäre Kontinuität hindeuten. Vor dem Regierungsgebäude aus Stalins Zeiten, das mittlerweile das Repräsentantenhaus beherbergt, steht nach wie vor die Lenin-Statue. Wer Lenin fotografiert, wird von Polizisten freundlich, aber bestimmt angewiesen, das Gebäude nicht mit zu fotografieren. Vor einem anderen Regierungsgebäude stehen Panzer mit dem Stern der Roten Armee. In einem repräsentativen Bau auf dem zentralen Niamiha-Boulevard liegt die Zentrale des KGB, nur ein paar Häuser neben McDonald’s. Weißrussland ist unter den postsowjetischen Ländern das einzige, in dem der Geheimdienst immer noch den Namen aus Sowjet­zeiten trägt.
Was denkt die Bevölkerung in einem Land, das zwischen europäischer Normalität und postsowjetischer Kontinuität zu schwanken scheint, über die Ukraine-Krise? »Die Mehrheit der Leute ist auf Seiten Russlands«, sagt Irina. »Das liegt vor allem daran, dass die meisten russische Fernsehsender schauen.« Die 27jährige ist viel gereist, arbeitete drei Jahre in Moskau und einige Monate in Shanghai und war schon häufig in Westeuropa. Ihr Vater ist Geschäftsführer eines halbstaatlichen Unternehmens. Sie ist an den in Westeuropa vorherrschenden Ansichten über den Konflikt interessiert, die in den russischen Medien keine Rolle spielen. Umfragen des Meinungsforschungsinstitutes Independent Institute for Socio-Economic and Political Studies (IISEPS) zufolge schauen nur 22 Prozent Weissrussen regelmäßig ukrainische Fernsehsender. Das Meinungsbild im Land ist nach Angaben des IISEPS stark vom russischen Staatsfernsehen beeinflusst.
Die dominante Sprache in Weißrussland ist russisch, im Gegensatz zur Ukraine gibt es in Weißrussland keinen Streit über die Amtssprache. Nur eine Minderheit der Weißrussen spricht zu Hause Weißrussisch, nach Studien der Regierung sind es gerade mal zwölf Prozent. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die Frage der Amtssprache ein größeres Politikum als heute. Teile der Unabhängigkeitsbewegung wollten Weißrussisch zur Amtssprache machen, doch Lukaschenko setzte sich nach seinem Amtsantritt 1994 früh für den Erhalt des Russischen als Amtssprache ein und gewann auch deswegen die Unterstützung Russlands.

»Lukaschenko ist genau der Richtige für die Menschen hier«, sagt Irina. »Die meisten wollen nicht zu viel Veränderung.« In der letzten Umfrage im März ist die Zustimmung für Lukaschenko von 35 auf 40 Prozent gestiegen – was freilich immer noch weit unter seinen durchschnittlichen Ergebnissen bei den manipulierten Präsidentschaftswahlen liegt. In diesen wurden zwar andere Kandidaten zugelassen, am Ende gewann bisher aber immer Lukashenko mit um die 80 Prozent der Stimmen.
Dass viele Weißrussen ihren Präsidenten nicht lieben, macht sie aber offenbar nicht zu Oppositionellen. Für die Proteste auf dem Maidan in Kiew hat nach Angaben des IISEPS nur eine Minderheit der Bevölkerung Sympathie. Lediglich 20 Prozent der Befragten bekundeten Sympathie mit den Demonstrierenden in Kiew, 40 Prozent beurteilten die Proteste eher negativ. Wenn ähnliche Demonstrationen in Weißrussland stattfänden, würden derselben Umfrage zufolge nur 16 Prozent der Befragten daran teilnehmen, elf Prozent wären dagegen. Fast zwei Drittel der Befragten würde Distanz zu beiden Seiten wahren. »Die Menschen hier wollen mit den Ukrainern nicht tauschen«, sagt Irina. Sie berichtet von verarmten ukrainischen Flüchtlingen, die vor dem Konflikt über die Grenze nach Weißrussland geflohen sind. »Die meisten Weißrussen schätzen die Stabilität im Land, gerade jetzt, wo die Ukraine im Chaos versinkt.«
Auch bei der Frage, ob sich Weißrussland eher an der EU oder an Russland orientieren sollte, haben der Ukraine-Konflikt und der Einfluss russischer Medien Spuren hinterlassen. Im März plädierten 52 Prozent der Befragten für Russland und nur 33 Prozent für die EU. Dies steht im Gegensatz zu Umfrageergebnissen von Dezember vergangenen Jahres. Vor dem Beginn der Ukraine-Krise waren noch 46 Prozent für engere Bindungen an die EU und nur 36 Prozent für eine Anlehnung an Russland.
»Die Menschen hier teilen dieselbe Kultur mit Russland«, meint Irina. »Doch zugleich ist es für viele wichtig, einen Kontakt nach Europa zu haben und nach Europa reisen zu können.« 90 Prozent ihrer Freunde seien im Ausland, vor allem die »Kreativen« und jene, die etwas erreichen wollten. In keinem anderen Land werden mehr Anträge auf Schengen-Visa gestellt als in Weißrussland. Es gibt keine staatlichen Restriktionen der Reisefreiheit. Wer die Bedingungen für ein Schengen-Visum erfüllt, kann in die EU einreisen, Beschränkungen gelten nur für Lukaschenko und dessen Führungszirkel.
In der litauischen Haupstadt Vilnius erzählt Eleonora* von ihrer Arbeit beim staatlichen weißrussischen Sender Radio Mir. Der Sender ist eher auf Unterhaltung und Kultur ausgerichtet, dennoch sei es ein schmaler Grat zwischen dem, was man sagen könne, und dem, was man besser nicht sagen sollte: »Vor allem habe ich Angst, den Job zu verlieren. Wer den Job verliert, kann nur noch für oppositionelle Sender arbeiten. Von denen gibt es nicht viele und sie sind unter ständiger Beobachtung der staatlichen Autoritäten.«

Bei ihren Freunden, die für oppositionelle Medien wie die Platform TUT.by oder Charter 97 arbeiten, sei die Angst freilich noch viel größer. Im privaten Rahmen und in Blogs bleibt Regierungskritik in der Regel folgenlos, auch das Internet in Weißrussland ist unzensiert. Doch die Regierung versucht, die medialen Aktivitäten der Opposition einzudämmen. Im von der NGO Reporter ohne Grenzen aufgestellten Index der Pressefreiheit steht Weißrussland auf Platz 157 zwischen Swaziland und Pakistan.
Massenproteste wie in der Ukraine erwartet Eleonora in Weißrussland nicht: »Die weißrussische Bevölkerung ist von ihrem Charakter her viel zu ruhig.« Die Weißrussen wollten »die relative Stabilität des Landes nicht riskieren«. Das hänge auch mit den Traumata des Zweiten Weltkriegs zusammen, damals kam ungefähr ein Drittel der Bevölkerung ums Leben. »Vielleicht regiert Lukaschenko noch weitere 20 Jahre. Und falls es einen Umbruch geben sollte, dann wird dieser von Kreisen innerhalb des Regimes ausgehen.«

* Name von der Redaktion geändert.